
Warum wir einen Bürgerrat für eine Reform von Staat und Föderalismus brauchen
Franziska Brantner, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen sowie ehem. Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK)
Es wird immer deutlicher: Der gewachsene Föderalismus gefährdet die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Ineffiziente Strukturen, fehlende Digitalisierung und Entscheidungsblockaden bremsen Verwaltung und Wirtschaft aus. Ein Bürgerrat könnte konkrete Reformvorschläge erarbeiten – für klarere Zuständigkeiten, mehr Mut zur Innovation und eine moderne Demokratie.
Die Frage heute ist nicht: Sollen wir den Staat reformieren? Die Frage ist: Wie sollen wir den Staat reformieren? Angesichts der vielen Barrieren und Blockaden, im Prozess und in den Köpfen, müssen wir andere Ideen und Antworten finden als bislang.
Das betrifft die Struktur unseres Staatsaufbaus und die Aufgabenverteilung zwischen den föderalen Ebenen, die Arbeitsweisen von Behörden und eine schnellere und umfassende Digitalisierung und auch die Frage von Mut und Risikobereitschaft in der Verwaltung.
Für das Großthema Staatsreform schlage ich deshalb einen Bürgerrat vor, der konkrete Konzepte entwickelt, wie das Verhältnis von Bund, Ländern und Kommunen und die Arbeitsweise der Verwaltungen und Ministerien den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts angepasst werden kann.
Ich habe selbst in Baden-Württemberg erlebt, wie offen, konstruktiv und lösungsorientiert Menschen miteinander an zentralen gesellschaftlichen Fragen arbeiten können, wenn sie befreit von Interessen und unterstützt von Expert:innen diskutieren und entscheiden können. Irland hat vorgemacht, wie auf diese Art und Weise ein politisch polarisierendes Thema zu einem guten Ergebnis gebracht wurde, in diesem Fall die Abtreibung – durch Bürger:innen, die per Los bestimmt wurden. Auch das Zuständigkeitsgeflecht innerhalb der föderalen Strukturen Deutschlands ist ein ähnlich kompliziertes Thema.
Der Widerspruch dabei ist: Es ist eigentlich fast allen politisch Handelnden klar, dass die derzeitige Staatsarchitektur, die historische Gründe hat, nicht mehr ausreichend schnell und gut funktioniert. Und es ist auch fast allen politisch Handelnden klar, dass ein Staat, der nicht gut genug funktioniert, auch das Vertrauen in die Demokratie gefährdet, im schlimmsten Fall sogar zersetzen kann. In Baden-Württemberg habe ich gesehen, wie Bürgerräte – entgegen mancher Skepsis – die Legitimation von demokratischen Verfahren erhöhen.
Die zufällig bestimmten Bürger:innen sind repräsentativ für einen Querschnitt der Bevölkerung. Das schafft Ergebnisse, die stärker eine demokratische Mitte spiegeln. Entscheidend dabei ist, dass die Bürger:innen zu jedem Zeitpunkt ihrer Diskussionen auf das möglichst diverse Wissen von Expert:innen zurückgreifen können.
Idealerweise sind es etwa 100 Bürger:innen, die sich erst eine gewisse Zeit, etwa ein Jahr lang, regelmäßig treffen und Vorschläge erarbeiten – die dann auch vom Bundestag diskutiert werden. Diese Vorschläge sollten eine Grundlage für eine Staatsreform sein. Der Bürgerrat würde die Umsetzung der Maßnahmen dann auch begleiten und damit einen fortlaufenden Reformprozess garantieren.
Verpflichtend müsste bei all dem für die nächste Bundesregierung das Verständnis sein, dass es eine Reform braucht und gibt. Das Thema muss ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Klar sollte auch sein, dass das nicht von oben geschieht, eine Kommission von Expert:innen allein, sondern nur durch Druck von unten und im Zusammenspiel von Bürgerwille und Expertise.
Der Bürgerrat selbst müsste allerdings vom Bundestag ausgehen, er sollte in seiner Intention überparteilich sein und die gesellschaftliche Einsicht in die Notwendigkeit dieser Reform reflektieren. Der gegenwärtige Zustand ist ja nicht nur ein politisches, es ist auch ein wirtschaftliches Problem: Die Ineffizienzen können wir uns im internationalen Wettbewerb nicht mehr leisten.
Folgende Punkte sollten meiner Meinung nach mit einbezogen werden:
- Die Aufgaben und Rollen in unserem föderalen Staat müssen an einigen Stellen neu verteilt, gebündelt und klarer gestaltet werden.
- Die Kommune ist der Ort, wo Demokratie gelebt wird. Wir sollten mehr lokalen Gestaltungsraum ermöglichen, auch finanziellen. Die aktuellen Förderprogramme des Bundes bringen die Kommunen an ihre Grenzen, statt sinnvoll vor Ort die wichtigen Aufgaben anzugehen.
- Dafür könnten auch viele Dienstleistungen des Staates durch zentralisierte Shared Services digitalisiert werden, statt etwa das Passverfahren hundertfach vor Ort durch die jeweiligen Behörden zu digitalisieren.
- Auch die aktuelle Arbeitsweise der Verwaltung ist zu oft nicht mehr der Zeit angemessen. Es braucht eine neue Risikokultur, mehr Eigenverantwortung und Mut, vergrößerte Entscheidungsspielräume, und mehr Klarheit in den Zuständigkeiten, um die Mitarbeitenden in den Ämtern und Behörden aus dem gegenwärtigen Zuständigkeitswirrwarr zu befreien, das nur die Prozesse verlangsamt. Auch hier gilt: Was technisch möglich ist, muss politisch gewollt sein.
- Für eine schnelle und umfassende Digitalisierung braucht es eine Bündelung von Zuständigkeiten und Budgetverantwortung in einem Digitalministerium. Ein größerer und mutigerer Einsatz von KI ist nötig. Es ist höchste Zeit, eine Deutschland-App voranzubringen und alle Dienstleistungen mit Schnittstellen auszustatten – das Ziel muss sein, dass Bürger:innen oder Unternehmen nicht mehr zu verschiedenen Stellen gehen müssen oder zigfach die gleichen Daten eingeben.
Zu all diesen Punkten gibt es Bewegung. Aber es eilt. Denn wir werden den internationalen Wettbewerb gegen die Autokratien nicht gewinnen, wenn wir unser demokratisches Betriebssystem nicht grundsätzlich updaten. In Freiheit entstehen neue Ideen. Wenn wir das durch unser staatliches Handeln erschweren, können wir nicht bestehen.
Dieser Artikel wurde zuerst am 3. Februar 2025 im Table Forum Staatsreform veröffentlicht. In Kooperation mit Table.Media und zusammen mit Agora Digitale Transformation und dem NExT Netzwerk versammeln wir hier die Stimmen inspirierender Menschen aus Politik und Verwaltung. In ihren Artikeln erläutern sie ihre parteiübergreifenden Vorschläge für den Staat von morgen an die nächste Bundesregierung.