
Die schreckliche Straftat von Aschaffenburg hat verschiedene Reaktionen bewirkt, die verschiedene Vorstellungen von staatlichem Handeln offenbaren. Wie sich die deutsche Gesellschaft – nicht nur in Fragen der inneren Sicherheit – verhält und entwickelt, entscheidet sich an Debatten wie diesen.
Die härteste Reaktion nach Aschaffenburg, Magdeburg und Solingen kam von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz: Er will die Außengrenzen für irreguläre Migration schließen, Merz nennt es „illegale Migration”. Aber Merz ist nicht der einzige. Fast alle Parteien versuchen gerade, das Problem der inneren Sicherheit an den deutschen Außengrenzen zu lösen.
Das ist ein Widerspruch in sich. Denn die Gründe für diese Straftaten sind komplex, die Geschichten der Attentäter belegen behördliches Versagen innerhalb des Landes, nicht an den Grenzen. Es wäre deshalb logischer und vernünftiger, die Probleme dort zu lösen, wo sie anfallen – und nicht verfassungsrechtliche Grundsätze über Bord zu werfen.
Viele setzen auf das, was sie einen „starken Staat” nennen: Abschreckung nach außen, Ruhe nach innen, das ist die Logik. Dabei wäre es wichtig, einen starken Staat zu definieren, der anders stark ist: einen starken Staat nach innen, der präsent und vorausschauend ist. Mit genügend Mitteln für seine notwendigen Aufgaben ausgestattet.
Das ist gerade nicht der Fall – verantwortungsvolle Politik sollte aber genau das versuchen. Was dafür notwendig ist, ist ein neues Verständnis von Staat. Dazu müssen Probleme richtig benannt werden. Die Anträge der Union stellen dazu richtigerweise fest: „Nur wenn der Staat klare Regeln durchsetzt und diejenigen schützt, die sich an Recht und Gesetz halten, bleibt der gesellschaftliche Zusammenhalt bestehen.” Auch Andrea Lindholz, CSU-Abgeordnete aus Aschaffenburg und innenpolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, ist zuzustimmen, wenn sie sagt: „Das System ist überlastet.”
An diesem Punkt müsste man ansetzen: Sicherheit ist eine systemische Frage, die sich nicht über Symptombekämpfung lösen lässt. Das aber schlägt die Union vor und treibt damit so gut wie alle anderen Parteien in die falsche Richtung. Wichtiger, konstruktiver und ehrlicher als europa- und verfassungsrechtlich eigentlich nicht mögliche Gesetzesverschärfungen wäre es, wirklich zu durchdenken, wie ein anderes Verständnis von Staat zu einer anderen Praxis von Sicherheit führen könnte. Und wie sich beides bedingt.
Wollen wir unsere Energie und Aufmerksamkeit in die Abschottung investieren oder wollen wir anpacken und endlich das Behörden- und Aufgabengeflecht, gerade im Sicherheitsbereich, auflösen? Wollen wir den Staat mit der Kettensäge weiter bis zur Unfähigkeit trimmen oder wollen wir einen gestaltenden Staat, der zusammen mit allen gesellschaftlichen Akteur:innen Sicherheit, Bildung, Gesundheit und Wohnen organisiert?
Die Herausforderungen der Zukunft schaffen wir nur mit einem aktiven, kommunizierenden, integrierenden Staat, der Lösungen anbietet. Ja, wir brauchen einen starken Staat, auch im Sicherheitsbereich. Aber stark heißt nicht gleich autoritär. Stark heißt nicht befehlen, vorverurteilen, begrenzen. Stark heißt zusammenbringen, gemeinsam Lösungen entwickeln und Wirkung organisieren. Dafür müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf den Umbau bisheriger Strukturen, Prozesse und Mindsets legen.
Anstatt darüber zu debattieren, wie viel Zurückweisungen und Abschiebungen effektiv durchgeführt wurden, sollten wir endlich das Aufgaben- und Verantwortungswirrwar in unserer Sicherheitsarchitektur sortieren. Wie können wir beispielsweise Aufgaben und Verantwortung vor Ort bündeln? Wie können wir die 16 Landeskriminalämter zusammenlegen und mit den örtlichen Sicherheitsbehörden eng verbinden? Anders gesagt: Eine Föderalismusreform ist die dringend notwendige Voraussetzung für die innere Sicherheit in Deutschland.
Sicherheit hat entweder lokale Aspekte, etwa Jugendkriminalität in einem bestimmten Stadtteil oder nächtliche Übergriffe in einem Park. Oder überregionale Dimensionen, wie organisierte Kriminalität und Terror. Für das eine muss die örtliche Polizei mit mehr Freiraum ausgestattet werden und gemeinsam mit lokalen Präventionsnetzwerken der Zivilgesellschaft handeln, für das zweite sind Spezialeinheiten auf Bundesebene zuständig. Der Föderalismus verhindert momentan die Nachverfolgung, den Datenaustausch und auch den Zugriff auf Täter:innen.
Anstatt zu drohen, Menschen den deutschen Pass zu entziehen, sollten wir daran arbeiten, wie wir gemeinsam über Sektoren hinweg Frühwarnsysteme etablieren können und deutlich machen, dass gerade Prävention durch eine starke Verzahnung von Staat und Zivilgesellschaft sehr viel effektiver ist: Soziale Träger und Schulen etwa arbeiten eng mit der Polizei zusammen, die Stadtplanung sollte so gestaltet werden, dass unsichere Ecken vermieden werden, indem die Anwohner:innen miteinbezogen werden. Das alles erfordert staatliches Handeln, aber anders, und finanzielle Mittel, die anders eingesetzt werden.
Der Staat, der wirklich für Sicherheit sorgen kann, ist ein aktiver Staat, er ist präsent, vor Ort, zusammen mit den Menschen. Gleichzeitig schaffen die Digitalisierung und eine direkte Kommunikation eine bessere Datenlage als bisher. Die Täter in Aschaffenburg und Magdeburg etwa waren den Behörden bekannt, von über 100 Kontaktpunkten ist die Rede. Wenn – wie in Aschaffenburg – ein ausreisepflichtiger, psychisch kranker und verurteilter Straftäter, von den Behörden aufgefordert wird, selbst ein Gutachten zur Reisefähigkeit einzuholen, dann hat das nichts mit der Migrationsgeschichte des Täters, sondern mit den falschen Sicherheitsprozessen der Behörden zu tun.
Es gibt genügend Vorschläge, wie der Staat und seine Behörden wirksamer aufgestellt werden sollten. Aus der Union, der SPD und den Grünen kamen dazu substantielle Vorschlagspapiere in den letzten drei Monaten. Sie reichen vom Umbau im Personalwesen über die Neuverteilung der Aufgaben zwischen den föderalen Ebenen bis hin zur neuen Struktur unseres Steuersystems. Es gibt eine große, gemeinsame, überparteiliche Einsicht in die Notwendigkeit, den Staat grundsätzlich zu reformieren – nicht nur um mehr Sicherheit zu garantieren, sondern generell die Legitimation des Systems der Demokratie zu garantieren.
Nur durch eine neue Gesellschaftskraft und durch einen gemeinsamen Gestaltungswillen lässt sich das schaffen. Die Wahlprogramme sagen eher wenig zur Erneuerung unserer Sicherheitsarchitektur. Hier liest man nur über neue Ausrüstung, Personal und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Es braucht mehr Mut und Umsetzungskraft, die zum Teil grundlegenden Reformen auch anzugehen – Föderalismus, Beamtenrecht, parlamentarische Praxis, um nur ein paar zu nennen. Wir haben eigentlich keine Zeit, unsere Energie und Umsetzungskraft wieder in einer Migrationsdebatte zu verschwenden, die uns nicht weiterbringt.
Ein neues Staatsverständnis muss den Staat von unten her denken, von allen aus – das wird zu einem effektiveren Staat führen, der auch besser in der Lage ist, Sicherheit mit Humanität zu verbinden. Dieser Staat versteht sich als Teil der Gesellschaft, er ist demütiger, reicher an Menschlichkeit und Methoden. Es ist ein Staat für das 21. Jahrhundert. Deutschland hat mehr verdient als eine weitere symbolträchtige Migrationsdebatte ohne tatsächliche Wirkung.
Dieser Text ist am 6. Februar 2025 in unserem Re:Form-Newsletter versendet worden. Melde Dich jetzt an.