Wenn über die EU diskutiert wird, dann ist man schnell beim Vorwurf überbordender Regulierungswut. Es entsteht das Bild einer Gesetzesmaschine, die Einzelstaaten entmündigt – was die Einsicht überlagert, dass EU-weite Standardisierung in einigen Bereichen durchaus Sinn ergibt.

Gerade deswegen ist eine andere Perspektive wertvoll, die auf die Vielfalt
unterschiedlicher Regulierungen in den einzelnen EU-Ländern gerichtet ist. Denn jenseits der zentralen Vorgaben aus Brüssel ist die Europäische Union weiterhin ein faszinierendes Labor von 27 unterschiedlichen Regulierungsräumen – alle entstanden unter freiheitlich demokratischen Bedingungen.

Für innovative Lösungen, die auch für die deutsche Verwaltung relevant sind, sollten wir dieses kontinentale Reallabor viel mehr nutzen. Wenn wir also sehen, wie klug zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr in Frankreich finanziert wird, welche Dynamik beim digitalen Staat in Litauen möglich ist oder wie Österreich sozialen Wohnraum sichert – wie wäre es, wenn wir dieses Pfund der Vielfalt als Motor für smarte Regulierung nutzen?

Ganz konkret: Wir erlauben Städten und Landkreisen, auf die ganze Bandbreite von Regulierungsbeispielen in Europa zurückzugreifen. Das heißt, deutschen Kommunen wird es erlaubt, innovative und doch schon bewährte Regeln und Praktiken aus anderen EU-Ländern anzuwenden, auch wenn deutsches Recht im Weg steht.

Der Ansatz ist nicht neu: Charter Cities werden international als eine Art exterritoriale Städte diskutiert, an denen besondere – also andere als die jeweils nationalen – Gesetze gelten, um eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Angewandt auf Europa würde das bedeuten, dass ausgewählte europäische Städte und Landkreise auf das gesamte Spektrum von existierender Regulierung im EU-Raum zurückgreifen könnten – sei es bei Freiheiten zur Regulierung des Verkehrs, beim autonomen Fahren, beim staatlichen Datenschutz, bei Bauvorschriften, der Flüchtlingsintegration oder bei Denkmalschutzregeln.

Denn die gute Nachricht ist: Viele innovative Regeln müssen nicht neu entwickelt werden. Innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten gibt es eine Vielzahl von innovativen Projekten, Lösungen und Regeln, die das Potenzial haben, auch in Deutschland zu funktionieren und das staatliche Handeln zu verbessern: Beispielsweise sind das tschechische One-Stop-Shop-Behördenhaus für Geflüchtete, das estnische dynamische Beschaffungssystem, die belgischen Bürgergutachten zur Haushaltsaufstellung, das schwedische beschleunigte Vergabeverfahren, der Ausbau des ÖPNV und der Radnetze aus Kopenhagen oder die Smart-City-Konzepte aus Barcelona bewährte Projekte und Regeln, die EU-Recht entsprechen.

Der Vorteil: Regeln, die mindestens in einem EU-Land erfolgreich angewandt wurden, sind konform mit dem EU-Recht. Was wäre, wenn München das Radnetz aus Kopenhagen ausprobiert, oder was wäre, wenn Hannover das Beschaffungssystem aus Estland einführen würde? Kurzum: Was wäre, wenn die 11.000 Kommunen in Deutschland die Freiheit hätten, auf den Schatz an Best Practices aus über 86.000 Kommunen europaweit zurückzugreifen dürften?

Voraussetzung für einen solchen Weg wären qualifizierte Mehrheiten in den
jeweiligen Stadt- und Kreisparlamenten und ein klar definierter Erprobungsraum von zum Beispiel zehn Jahren, um auch Langfristeffekte abschätzen und überprüfen zu können. 

Die entsprechenden Vorstöße sollten wissenschaftlich gut begleitet und
evaluiert werden – auf diese Weise würden institutionelle Reallabore eines ganz neuen Typus entstehen. Die Bundesregierung geht derzeit einen kleinen Schritt in diese Richtung: Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz erarbeitet ein Gesetz, das einen Rahmen für Reallabore schaffen soll. Bisher ist das Reallabor-Gesetz verengt auf technologische Experimentierklauseln ausgelegt. 

Der Vorschlag: Das Reallabor-Gesetz sollte
1) insgesamt mutiger sein,
2) auf soziale, regionale und staatliche Experimente ausgeweitet werden und
3) von vornherein Anreize für den Transfer von europäischen Best Practices setzen.

Entbürokratisierung und die Kraft der Vielfalt der Europäischen Union würden
plötzlich Hand in Hand gehen. Was für eine faszinierende Idee: Normierung als demokratischer Experimentierraum, ausgewählt und gesteuert vor Ort – statt eine Zwangsanordnung als Brüssel. Der größte und vielfältigste demokratische Regulierungsraum der Welt als Möglichkeitsbox für neue Wege zur Politikgestaltung vor Ort. Das würde uns nicht nur helfen, Bürokratisierung zu überwinden, sondern auch einen neuen chancenorientierten Blick auf Europa zu werfen.

Keine Frage: Ein solcher Ansatz ruft vermutlich viele rechtssystematische Bedenken hervor. Doch wenn wir aus dem Bürokratisierungskomplex herauswollen, brauchen wir neuen Mut zum groß skalierten Experiment. Nur wenn es gelingt, mutiger unsere freiheitlichen Demokratien weiterzuentwickeln, werden wir Europa wieder als Chancenprojekt positionieren können und vermeiden, dass es ganz andere politische Kräfte übernehmen.

Basierend auf dieser Re:flexion möchten wir mit Euch ins Gespräch und ins gemeinsame Handeln kommen. Wir sind gespannt auf Eure Antworten und laden Euch ein, uns zu schreiben. Schreibt uns dazu gerne via: reform@projecttogether.org. 

The Bigger Picture

Was bedeutet es, wenn die Verwaltung wie ein Team arbeitet?

Eine Herausforderung staatlichen Handelns ist die Frage, ob der Staat liefert. Oder warum der Staat nicht liefert. Man kann das als „responsiveness“ beschreiben, also das Gefühl, dass da Menschen arbeiten, die verstehen, was die Gesellschaft will, was wir brauchen. Und wenn es hakt, wenn man merkt, dass da etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, erkennt man oft, dass es an den Abläufen innerhalb der Verwaltung liegt – wie sie organisiert sind und wie falsche Prioritäten und Partikularismen die Abläufe behindern. Modul F ist ein Beispiel dafür, wie es anders gehen könnte; und verweist doch gleichzeitig auf die Dysfunktionalitäten im System: Wie können alle im Staat arbeitenden Menschen lernen, sich als ein Team Staat zu begreifen? Für diesen kulturellen Wandel müssen sich nicht nur Mitarbeitende aus Bund, Ländern und Kommunen als Kollegen begreifen, es müssen auch die Gräben zwischen Referaten und Abteilungen überwunden werden. Zuständigkeiten haben ihre Funktion, aber wenn eine risikoaverse Kultur des “Das ist nicht meine Zuständigkeit” übernimmt, verliert staatliches Handeln leicht an Dynamik. Spoiler Alert: Auch der Föderalismus hilft hier nicht wirklich weiter.

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