Wir stehen vor enormen Herausforderungen. Die Welt um uns herum verändert sich schneller, als es viele von uns für möglich gehalten hätten: Pandemie, Klimawandel, globale wirtschaftliche und politische Verwerfungen. All das fordert nicht nur unseren Alltag heraus, sondern auch die Art und Weise, wie wir Regierung und insbesondere ihre Finanzen denken und gestalten. Doch was wäre, wenn wir in der Haushalts- und Finanzpolitik umdenken würden? Was wäre, wenn wir Fehler nicht länger als Schwäche, sondern als Chance für Innovation betrachten könnten? Genau hier setzt der Humble Government Approach an, der auch eine neue Vision für mehr Bescheidenheit im Umgang mit öffentlichen Finanzen bereithält.

Stellen wir uns also vor, Haushaltsentscheidungen würden nicht mehr in einem starren, technokratischen System getroffen werden, das Trial-and-Error sanktioniert. Stattdessen fänden wir eine Politik vor, die bereit ist, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich an neue Gegebenheiten und Bedingungen experimentierfreudig anzupassen. Humble Government lädt uns ein, bescheidener und gleichzeitig mutiger zu werden. Es geht nicht darum, dass wir immer sofort Antworten auf die sich permanent wandelnden Fragen unserer Zeit kennen – es geht darum, offener zu sein für neue Perspektiven und Wege.

Humble Government wird hierbei von der Annahme getragen, dass eine Regierung, die ihre Unfehlbarkeit aufgibt, nicht nur an Glaubwürdigkeit gewinnt, sondern auch an Stärke – und vor allem an gesellschaftlicher Akzeptanz. Der Ansatz steht für eine neue Haltung in Politik und öffentlicher Verwaltung: Statt Allwissenheit und Perfektion zu suggerieren, geht es darum, Bescheidenheit zu zeigen, Fehler einzugestehen und offen für Zusammenarbeit zu sein. Eine Regierung, die Humble Government praktiziert, verlässt sich nicht ausschließlich auf technokratische oder hierarchische Strukturen, sondern setzt auf Kooperation und Experimente. Diese Art der Regierungsführung ist flexibel und adaptiv, wodurch sie besser auf komplexe, dynamische Herausforderungen reagieren kann, wie etwa Krisen oder langfristige gesellschaftliche Probleme.

Dies betrifft im Grunde keinen Bereich so unmittelbar wie die öffentlichen Finanzen. Sie sind unsere gemeinsame Geldbörse, aus der wir als Gesellschaft schöpfen können, um wichtige Investitionen zu tätigen und die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Um mit diesen Mitteln aber möglichst behutsam und sorgfältig umzugehen, sollten wir öffentliche Finanzen nicht länger als starre Einbahnstraße betrachten und sie auch so behandeln. Öffentliche Finanzen müssen flexibel sein, sich anpassen und auf sich ständig wandelnde Bedürfnisse und Krisen reagieren können. Wenn wir endlich anerkennen, dass wir nicht immer den perfekten Plan haben, können wir Raum für echte Kreativität und mutige Experimente schaffen – und genau das brauchen wir.

Bezieht man den Humble Government Approach konsequent auf den Bereich öffentlicher Finanzen, so lassen sich vier zentrale Säulen definieren, die als wesentliche Leitlinien für eine flexible, transparente und anpassungsfähige Haushalts- und Finanzpolitik dienen:

  • Säule I: Nachhaltigkeit öffentlicher Finanzen
  • Säule II: Fragen des Mindsets und Managements
  • Säule III: Etablierung einer obligatorischen Experimentierkultur
  • Säule IV: Methodische und methodologische Kompetenz

Diese vier Säulen schaffen die Grundlage für eine moderne und flexible Haushalts- und Finanzpolitik, die auf Transparenz, Offenheit und Zusammenarbeit basiert. Die erste Säule zielt darauf ab, öffentliche Finanzen langfristig und nachhaltig zu gestalten. Dies bedeutet, sich von traditionellen, starren Budgetierungsmodellen wie der Jährlichkeit und dem sogenannten „Dezemberfieber“ zu lösen, wenn fieberhaft noch vorhandenes Geld ausgegeben wird. Ansätze wie das sogenannte Zero Waste Budgeting oder Investitions- bzw. Policy-Budgets sind hingegen darauf angelegt, dass (ungenutzte) Haushaltsmittel nicht verfallen, sondern für zukünftige Investitionen oder innovative Projekte genutzt werden.

Auf diese Weise wird sichergestellt, dass Ressourcen effizient eingesetzt werden, ohne dass sie aus Sorge vor Kürzungen mehr oder weniger sinnlos ausgegeben werden. Zudem erlauben etwa Policy-Budgets mehr Flexibilität, indem sie nicht strikt an festgelegte Programme gebunden sind, sondern auf aktuelle gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren können.

Die zweite Säule fordert daneben einen kulturellen Wandel in der öffentlichen Verwaltung. Anstatt strikter Kontrollen durch Rechnungsprüfungsbehörden und starren Reportingpflichten setzt Humble Government auf Empowerment und Vertrauen. Der übermäßige Fokus auf formale Regelkonformität geht oft zulasten der eigentlichen Zielerreichung. Die öffentliche Verwaltung konzentriert sich zunehmend auf die Erfüllung von Prüfstandards, statt ergebnisorientiert und flexibel zu agieren.

Ein zentraler Bestandteil ist das Abschwächen der sogenannten „Audit-Explosion“. Diese beschreibt den starken Anstieg von Prüfungen und Kontrollen in der öffentlichen Verwaltung, insbesondere bei der Verwendung öffentlicher Mittel. Die Zunahme an Audits- und Rechnungsprüfungen führt wiederum zu einem stark erhöhten Verwaltungsaufwand, da immer mehr (Personal-)Ressourcen für die Vorbereitung und Durchführung von Prüfungen benötigt werden. Dadurch verbringen Behörden oft viel Zeit damit, strenge Compliance-Anforderungen zu erfüllen, um Sanktionen zu vermeiden, anstatt sich auf ihre primären Aufgaben zu konzentrieren.

Letztlich geht es nicht darum, Prüfungen vollständig abzuschaffen, sondern darum, ein Gleichgewicht zu finden und neue, effektivere Ansätze zu schaffen. Statt die Anzahl an Audits zu reduzieren, könnten beispielsweise risikoorientierte Prüfansätze eingeführt werden, bei denen Vorhaben, die ein hohes finanzielles Risiko bergen, eine intensivere Prüfung erhalten, während bei kleineren Projekten mit geringem Risiko eine schlankere Überwachung ausreicht. Proaktive Kontrollmechanismen könnten zudem helfen, Fehler frühzeitig zu identifizieren, bevor sie größere Auswirkungen entfalten.

Hierzu könnte auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Rechnungsprüfungsbehörden und den Fachabteilungen beitragen, sodass man gemeinsam nach Lösungen sucht, anstatt nur zu sanktionieren. Entsprechende Lösungen sollten feinmaschig mit den Rechnungsprüfungsbehörden und den zuständigen politischen Ausschüssen (zum Beispiel dem Haushalts- und Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages) abgestimmt und kommuniziert werden. Insgesamt spielen Fragen der Kommunikation und Kooperation eine wichtige Rolle im Humble Government öffentlicher Finanzen: So wird ebenfalls vorgesehen, stärkere Kooperationen wie Public Joint Ventures zu fördern, um durch die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und/oder freien Wirtschaft bessere und nachhaltigere Ergebnisse zu erzielen.

In einer sich schnell verändernden Welt ist es außerdem entscheidend, dass Verwaltungen den Mut haben, neue Wege zu gehen und Fehler als Lernchancen zu begreifen. Die dritte Säule des Humble Governments im Bereich öffentlicher Finanzen fördert daher ausdrücklich eine Experimentierkultur in der öffentlichen Verwaltung. Dies ließe sich effektiv durch eine obligatorische rechtliche Verankerung umsetzen, indem gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die explizit Raum für Innovationen und Experimente bieten – ausdrücklich auch bei öffentlichen Ausschreibungen und Zuwendungen. Solche rechtlichen Bestimmungen könnten festlegen, dass öffentliche Verwaltungen regelmäßig neue Ansätze in der Praxis testen dürfen oder sogar müssen – etwa in Form von Pilotprojekten, Regulatory Sandboxes oder zeitlich begrenzten Experimenten.

Diese Instrumente erlauben es, innovative Maßnahmen auszuprobieren, ohne das Risiko zu tragen, dass bei Misserfolg sofort Sanktionen drohen. Ein entsprechendes Gesetz könnte etwa vorsehen, dass die Bundesverwaltung eine bestimmte Quote an Innovationsprojekten umsetzen müsste, die schließlich evaluiert werden. Diese Projekte könnten dann wiederum als Modell dienen, um erfolgreiche Ansätze in den Regelbetrieb zu überführen. Formate wie (Financial) Fuckup Nights, bei denen gescheiterte Projekte offen diskutiert werden, würden zudem ein Umfeld schaffen, das dazu sensibilisiert, aus Fehlern zu lernen und künftige Initiativen zu verbessern.

Die vierte Säule betont schließlich die Notwendigkeit, moderne Methoden stärker in den Verwaltungsalltag zu integrieren. Neue Accelerator Concepts sind ein Beispiel dafür, wie Entscheidungen schneller, effizienter und an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert getroffen werden könnten. Statt eines hierarchischen Top-Down-Ansatzes wird hierbei ein Bottom-Up-Modell verfolgt, bei dem die Fachbereiche der öffentlichen Verwaltung stärker eingebunden werden. Accelerator Concepts könnten dazu verwendet werden, Pilotprojekte im Bereich öffentlicher Finanzen aufzusetzen und diese in einem kurzen, intensiven Zeitraum zu evaluieren. Wenn die Projekte erfolgreich sind, können sie schnell in größerem Maßstab eingeführt werden.

Öffentliche Verwaltungen könnten daneben Innovationswettbewerbe ausrichten, um externe Ideen und Lösungen von Start-ups, zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Unternehmen einzubinden. Ziel wäre es, durch Kooperation und Co-Kreation schneller neue Finanzinstrumente oder Verwaltungsprozesse zu entwickeln und in die Verwaltungspraxis zu integrieren. Methoden und Tools wie Zukunftswerkstätten, Social Listening, Future oder Innovation Labs könnten hierbei den nötigen Raum bieten, um kreative und vor allem praxisnahe Lösungen zu entwickeln, die direkt auf die Bedürfnisse der Gesellschaft reagieren.

Indem wir den Mut beweisen, neue Wege zu gehen, können wir eine Haushalts- und Finanzpolitik gestalten, die den Anforderungen der Gegenwart gerecht wird und zugleich die Zukunft im Blick behält. Am Ende des Tages geht es beim Humble Government nicht lediglich um rein technische Reformen, sondern um einen kulturellen Wandel in der Art und Weise, wie wir öffentliche Finanzen und Verwaltung denken (wollen). Es geht darum, Bescheidenheit zu zeigen, Fehler zu akzeptieren und offen für neue Wege zu sein. Und es geht darum, das Vertrauen der Gesellschaft (zurück) zu gewinnen, indem wir transparent, kooperativ und flexibel handeln.

Wenn wir in der Lage sind, diesen Wandel in der Haushalts- und Finanzpolitik zu vollziehen, können wir eine öffentliche Verwaltung schaffen, die nicht nur effizient, sondern auch wirksam und zukunftsorientiert ist – darin liegt vor allem ein Mehrwert für unsere Demokratie. Es liegt an uns, diesen Schritt zu gehen und Humble Government als Chance zu nutzen, um echte Veränderungen zu bewirken. Denn eine Haushalts- und Finanzpolitik, die auf Bescheidenheit und Lernbereitschaft basiert, ist der Schlüssel zu nachhaltigen, langfristigen Lösungen – für unsere Demokratie und für uns alle.

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Georg Diez

The Bigger Picture

Humble Governance, könnte man sagen, setzt Ziele und Mittel in ein dynamisches Verhältnis. Charles Sabel von der Columbia University, der diese Denkschule inspiriert und mitentwickelt hat, nennt das Verfahren „rekursiv”, angelehnt an Mathematik oder Computerwissenschaften, wonach der Output oder das Ergebnis einer Anwendung der Input der nächsten wird und so weiter – ein Prozess also von sich ständig gegenseitig verändernden Ergebnissen. Ein Staat, der so arbeitet, ist radikal experimentell und kontinuierlich lernend.

Sabel arbeitet eng mit der finnischen Organisation Demos Helsinki zusammen, die den Ansatz des „demütigen Regierens” für ihr Land ausgearbeitet haben. Wichtig ist dabei einerseits, dass Ziele gesetzt werden, etwa „sauberes Wasser” oder „gute Ernährung” oder „gute Bildung” oder „nachhaltiges Wachstum” – und diese Ziele immer wieder überprüft, mit alternativem Vorgehen verglichen und für andere Kontexte angepasst werden.

Erforderlich ist eine „multi-level architecture”, wie Sabel das nennt – vier Elemente, die einen iterativen Kreislauf bilden. Am Anfang stehen Ziele und Metriken und zentrale sowie lokale Einheiten, die diese Ziele in Zusammenarbeit mit relevanten Stakeholdern aus der Zivilgesellschaft verfolgen. In einem zweiten Schritt bekommen die lokalen Einheiten, also entweder Akteur:innen des privaten Sektors oder Menschen in der Praxis wie Lehrer:innen, Polizist:innen, Sozialarbeiter:innen, weitgehende Freiheiten, die Ziele so zu verfolgen, wie sie es für richtig erachten.

Durch diese Autonomie der Akteur:innen ergibt sich, drittens, die Notwendigkeit, dass sie regelmäßig ihre Performance überprüfen oder evaluieren lassen – wo sie hinter die vereinbarten Indikatoren fallen, muss angepasst werden, basierend auf der Erfahrung anderer Akteure in dem Feld. Als viertes Element werden die Ziele, Metriken und Entscheidungsprozesse selbst angepasst, und zwar durch einen weiten Kreis von Akteur:innen und anhand der Probleme und Möglichkeiten, die sich im Prozess selbst ergeben haben.

Geschult ist dieses Denken an Theoretiker:innen der Demokratie wie dem amerikanischen Philosophen des Pragmatismus John Dewey – jede Regierung, so sein Credo, sollte systematischen Zweifel am eigenen Tun und den eigenen Prämissen ermöglichen. Für Freunde der abstrakten Begriffe hat Sabel noch diesen Terminus parat: Demütiges Regieren ist demnach „direkte deliberative Polyarchie”.

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