
Unsere Welt verändert sich mit rasantem Tempo: Multiple Krisen und technologische Innovationen stellen politische Programme vor große Herausforderungen. Das beeinflusst auch die Geschwindigkeit, mit der die politische Verwaltung agieren muss. Politik und Verwaltung müssen gleichermaßen reaktionsfähig sein, um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu sichern: Hierbei können Reallabore (Regulatory Sandboxes) eine Schlüsselrolle einnehmen.
Der Begriff stammt ursprünglich aus der Finanztechnologie und hat mittlerweile seinen Weg in verschiedene Sektoren gefunden. In unserer dynamischen Zeit bieten Reallabore eine Möglichkeit, neue Ideen unter realistischen, aber kontrollierten Bedingungen zu testen. Dadurch können Innovationen gefördert werden, Gesetzgebung und Politikumsetzung in Deutschland können durch in Experimentierräumen modernisiert werden.
Die Bundesregierung hat gerade einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der erstmals gesetzliche Regelungen unter anderem für die Definition von Reallaboren, Experimentierklauseln und regulatorisches Lernen vorsieht, eine Verankerung des Reallabore-Innovationsportals und eine innovationsfreundliche Ermessenslenkung im Genehmigungsprozess. Die Praxis sollte so weit wie möglich auf andere Bereiche von Verwaltungshandeln ausgeweitet werden.
Der Rat der Europäischen Union hatte schon 2020 festgestellt, dass Reallabore mehr und mehr in einer Reihe von Sektoren eingesetzt werden, etwa in den Bereichen Finanzen, Gesundheit, Rechtsdienstleistungen, Luftfahrt, Verkehr und Logistik sowie Energie, oft unter Verwendung neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und Blockchain-/Distributed-LedgerTechnologie (DLT).
Auch in Deutschland gibt es bereits erste Ansätze, insbesondere in den Bereichen Mobilität, Energie und digitale Verwaltung. Die deutsche öffentliche Verwaltung ist jedoch traditionell stark reguliert. Hier können Reallabore helfen, Innovationen schneller umzusetzen und gleichzeitig regulatorische Sicherheit zu schaffen.
Die Einführung neuer Technologien oder neuer Modelle kann in einem Reallabor getestet werden, bevor sie flächendeckend ausgerollt wird. Dies minimiert das Risiko von Fehlentwicklungen und ermöglicht gleichzeitig eine iterative Verbesserung. Insbesondere vor dem Hintergrund der bevorstehenden Bundestagswahl und der Möglichkeit, während der neuen Legislaturperiode einen innovativen Neustart zu wagen, können Reallabore eine Schlüsselfunktion bei der Entwicklung und Umsetzung von politischen Programmen und Gesetzen spielen.
Es gibt aber auch Herausforderungen, die gezielt angegangen werden müssen. Dazu gehören vorwiegend rechtliche Unsicherheiten, die Gefahr von Ungleichbehandlung und die Frage, wie Erkenntnisse aus einem Reallabor auf den gesamten Verwaltungsapparat übertragen werden können.
Eine der zentralen Herausforderungen ist die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Transparenz. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen klare rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die sicherstellen, dass alle potenziellen Teilnehmer:innen gleiche Chancen auf eine Teilnahme an Reallaboren haben. Zudem ist es wichtig, dass die Auswahlprozesse transparent gestaltet werden und regelmäßig überprüft wird, ob die resultierenden Ergebnisse mit den Prinzipien der Gleichbehandlung und Gerechtigkeit übereinstimmen.
Damit die Erkenntnisse aus einem Reallabor sinnvoll genutzt werden können, sollte ein strukturierter Wissenstransfer zwischen den beteiligten Akteuren erfolgen. Dies kann durch regelmäßige Publikationen, Workshops oder Konferenzen gewährleistet werden. Darüber hinaus sollten Mechanismen entwickelt werden, um erfolgreiche Reallabor-Ergebnisse auf andere Bereiche oder den gesamten Verwaltungsapparat zu übertragen. Pilotprojekte könnten hier als Brücke zwischen Experiment und Praxis dienen. Reallabore erfordern bei all dem oft – zumindest temporär – zusätzliche personelle und finanzielle Ressourcen.
Es ist daher entscheidend, dass die politische Verwaltung entsprechend ausgestattet wird, um zusätzliche Aufgaben effektiv bewältigen zu können.
Die Zusammenarbeit zwischen öffentlichem Sektor, Wissenschaft und Privatwirtschaft ist essenziell für den Erfolg von Reallaboren. Partnerships können den Austausch von Fachwissen und Ressourcen erleichtern. Gemeinsame Innovationslabore oder Plattformen könnten hier als Instrumente dienen, um Synergien zwischen den Stakeholdern zu schaffen.
Wichtig ist: Für jedes Reallabor sollten klare Ziele und Erfolgsindikatoren festgelegt werden. Evaluationen können dazu beitragen, den Fortschritt zu überwachen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Eine standardisierte Methodik zur Bewertung der Ergebnisse könnte zudem die Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Reallaboren erhöhen.
Besonders im deutschen Kontext bietet sich so die Chance, die hochregulierte Verwaltung zu modernisieren und neue Ansätze effizient zu testen. Deutschland hat die Gelegenheit, eine Vorreiterrolle einzunehmen und Innovation aktiv zu gestalten – nicht nur als Testfeld, sondern als festen Bestandteil zukunftsorientierter Regulierung.
Reallabore sind damit mehr als nur ein methodischer Ansatz – sie sind ein Versprechen für eine zukunftsorientierte Verwaltung. Der Schlüssel zum Erfolg liegt dabei in Mut, Kooperation und klaren Zielsetzungen. Es ist Zeit, den Wandel nicht nur zu denken, sondern ihn aktiv voranzutreiben – für eine Verwaltung, die echte Fortschritte ermöglicht und die Zukunft mutig gestaltet.
The Bigger Picture
Was ist eine langweilige Revolution? Indy Johar, Architekt, Sozialunternehmer und Gründer von „Dark Matter Labs”, hat diesen Begriff geprägt, um auf eine Veränderung hinzuweisen, wie wir sie zuletzt vor 100 Jahren erlebt haben: die Verschiebung von einem regulatorischen Regime zum anderen.
Was meint er damit? Zuerst einmal konstatiert Johar global eine „Explosion an Regulierung” – was verständlich sei angesichts der immer komplexeren Welt. Möglichst viele verschiedene Regelungen für möglichst viele verschiedene Realitäten, so der etwas aberwitzige Gedanke.
Schon vor zehn Jahren, so zitiert Johar den Thompson Reuters Trust Index, gab es etwa im Finanzsektor jede Woche weltweit 110 neue Regulierungsmaßnahmen. Der Fehler dabei, so Johar: Man versucht, mit einer analogen Logik in einer digitalen Welt zu operieren und schafft dadurch einen regulatorischen Overkill. Wie viel besser wäre es doch, mit digitaler Logik auf digitale Probleme zu reagieren.
„Wenn wir Chancen der Network Economy nutzen und ihre möglichen Gefahren abmildern wollen”, so Johar, „dann müssen wir aufhören, den Geist der industriellen Wirtschaft zu regulieren und die Realität der vernetzten Wirtschaft begreifen”.
Das, schreibt Johar weiter, sei nicht nur ein Problem der Wirtschaft: Für die Demokratien sieht es nicht nur eine Krise einzelner Regierungen, die aus falsch verstandener, analoger Regulierung entsteht, er sieht eine Krise des Regierens überhaupt.
Eine Antwort darauf, so Johar, sind neue Strukturen von dezentralisierte Legitimation und öffentlichem Vertrauen, was einen massiven Wandel im Denken erfordert. Reallabore, das ist das Fazit von Indy Johar, sind dabei möglicherweise nicht die Brücke zu einer neuen Realität im 21. Jahrhundert – sie sind die neue Realität.