Staatliches Handeln steckt in einem Dilemma: Die Welt wird immer komplexer und unübersichtlicher. Das macht auch das Regieren schwieriger. Fehlerfreiheit wird faktisch zur Unmöglichkeit. Gleichzeitig sehnen sich Bürger gerade in einer solchen Zeit nach Sicherheit, nach einem Staat, der „funktioniert“, der „die Dinge für sie regelt“. Wenn es als „Staatsversagen“ wahrgenommen wird, wird Dysfunktionalität zur Gefahr für die Demokratie. Mit einer neuen Experimentierkultur könnte staatliches Handeln fehlerfreundlicher werden und ein besseres öffentliches Erwartungsmanagement gelingen.
Dass wir in einer sogenannten VUCA-Welt leben, ist in der Management-Theorie und -Praxis längst angekommen. VUCA steht dabei als Abkürzung für eine Welt, die extrem volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig (englisch „ambiguous“) geworden ist. Das macht es für Unternehmen und Organisationen extrem schwierig. Sie müssen Planungen und Strategien ständig anpassen, auf unvorhergesehene Randbedingungen reagieren. Im klassischen Managementmodus gelingt das kaum noch. Das erklärt den Ruf nach agilen Managementmethoden, ressortübergreifendem Arbeiten und einer Fehlerkultur, die es ermöglicht, schnell zu lernen.
All diese Herausforderungen gelten in gleicher Weise für staatliches Handeln, das heißt das Schaffen gesetzlicher Regelungen und das tägliche Handeln von Verwaltungen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene. Staatliche Steuerung in einer VUCA-Welt ist dabei vermutlich sogar eine der komplexesten Steuerungsaufgaben unserer Zeit. Fehlerfreiheit ist hier von vornherein eine komplette Illusion. Trotzdem ist staatliches Handeln heute immer noch entlang der Fiktion organisiert, dass es eines „perfekten“ Staates bedarf, der die Dinge gerecht und allgemeinverbindlich für jeden Einzelfall regelt. Eingefordert wird das tagtäglich durch eine politische Opposition und eine mediale Öffentlichkeit, die jeden Fehler mit Schonungslosigkeit skandalisieren. Und durch Rechnungshöfe, die mit ähnlicher Erbarmungslosigkeit jeden Fehler aufdecken.
Verschärft wird das Problem durch einen kaum noch überschaubaren Regelungs-Dschungel von jeweils für sich sinnvollen Schutzzwecken sowie ein striktes Ressortprinzip, in der jeder Bearbeiter auf die Korrektheit seiner einzelnen fachlichen Perspektive schaut. Weiterhin durch ein Strafrecht, das Fehler oft dem einzelnen Beamten unmittelbar zurechnet. Die Folgen eines solchen Systems sind fatal: Es stirbt jegliche Fehlerkultur ab. Es ist in diesem System vernünftig, Fehler um jeden Preis zu vermeiden, zum Teil lieber nichts zu tun, sich aber in jedem Fall mehrfach abzusichern, um öffentliche Kritik und Haftungsgefahren abzuwenden.
Die Folge ist blockiertes staatliches Handeln in einer dynamischen Welt, die gerade ein zupackendes und pragmatisches Handeln bräuchte.
Als Antwort auf diese Situation ist in den letzten Jahren – aus Finnland kommend – der Vorschlag für eine neue Philosophie für staatliches Handeln entstanden. Sie nennt sich „Humble Government“ (Demütiges Regieren) und steht für ein neues ganzheitliches Verständnis von staatlichem Handeln in einer komplexen Welt.
Humble Government bedeutet demnach:
- die Fehlbarkeit staatlichen Handelns als unvermeidbar anzuerkennen
- staatliches Handeln so auszurichten, dass mit dieser Fehlerhaftigkeit produktiv umgegangen wird
- dies durch neue Formen der agilen Zusammenarbeit in und von Politik, Verwaltung, Unternehmen und Öffentlichkeit zu ermöglichen
Liberale Demokratien brauchen eine Antwort, die das emotionale Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit und Entschlusskraft mit einer der komplexen Welt angemessenen Fehler- und Lernkultur verknüpft. Experimentieren bietet hier einen Ausweg. Denn Experimentieren bedeutet, dass man in einem abgesteckten Umfeld kraftvoll etwas Neues wagt, um daraus etwas für das Ganze zu lernen. Wer experimentiert, der handelt mit Gestaltungszuversicht, ohne von einem umfassenden Perfektionsanspruch erdrückt zu werden. Er weiß, dass das Experiment scheitern kann – dass sich gerade daraus die entscheidenden Impulse für weiteres Handeln ergeben. Nur im beherzten Experimentieren lassen sich Handlungskraft und Zuversicht mit der Demut vor einer komplexen Welt verbinden. Experimentieren ist von der Idee der „Humbleness“ getragen, schafft aber Raum für Mutige und Tatkräftige. Dadurch entstehen Räume, die ein angemessenes staatliches Handeln für Menschen erfahrbar machen.
Um ein solches Experimentieren zu ermöglichen, braucht es Experimentierräume. Das sind zum Beispiel Möglichkeiten für Unternehmen oder Kommunen, Dinge jenseits aktueller gesetzlicher Regelungen einfach einmal auszuprobieren: Zonen für autonomes Fahren in der Stadt einzurichten, die Außerkraftsetzung des Denkmalschutzes für Solaranlagen vorzusehen, effektive digitale Lösungen auch außerhalb aktueller Datenschutzbestimmungen zu erproben, die Umsetzung großer Infrastrukturprojekte mit vereinfachten Genehmigungsprozessen auf den Weg zu bringen.
Aus diesen Experimenten kann man dann für das Ganze lernen und schafft über solche Experimentierräume einen Kulturwandel hin zu einem Humble Government, das ein kontinuierliches Lernen organisiert. Denn eine Experimentierkultur bedeutet Mut zum Handeln und zum Fehler machen. Aus ihnen gilt es etwas über das gesamte System zu lernen. Experimente sind damit essentieller Bestandteil eines angemessenen Regierens in einer komplexen Welt.
Der Weg dorthin braucht eine Reihe von Bausteinen: mehr Handlungsspielräume für Kommunen, eine wirkungsorientierte Steuerung von Politik und Verwaltung, klare Prozeduren, wie Regeln auf eine demokratische legitimierte Weise zeitlich und räumlich außer Kraft gesetzt werden können, Haftungsabsicherungen für diejenigen, die sich etwas trauen, und Bewertungssysteme, die Mut und nicht alleine Fehlerfreiheit sanktionieren.
Erste Schritte auf diesem Weg sind gemacht: Das Bundeswirtschaftsministerium arbeitet derzeit an einem umfassenden „Reallabor-Gesetz“ und hat gerade eine Arbeitshilfe zur Schaffung von Experimentierklauseln in Gesetzen vorgelegt. Das CDU-Grundsatzprogramm enthält einen eigenen Absatz zur Notwendigkeit von „Bundesexperimentierräumen“. Die Diskussion über das Experimentieren gewinnt auch in der öffentlichen Debatte weiter an Fahrt.
Mehr erfahren
- Charles F. Sabel, Jonathan Zeitlin: Experimentalist Governance.
- Mikko Annala, Juha Leppänen, Silva Mertsola, Charles F. Sabel: Humble Government: How to Realize Ambitious Reforms Prudently.
The Bigger Picture
Demut bedeutet, dass wir anerkennen, wie wenig wir wissen. Das ist ein Paradox des Regierens, das auf Entscheidungen basiert und dadurch Legitimation erhält. Aber stimmt diese Annahme auch? Das Team von Demos Helsinki hat zusammen mit Charles Sabel von der Columbia University einen Entwurf erarbeitet, wie Humble Government für Finnland funktionieren kann. Ein Fallbeispiel war die Reaktion auf die Corona-Pandemie. Hier zeigt sich exemplarisch, wie anders Verwaltung und Politik arbeiten müssen in Zeiten radikaler Unsicherheit.
Von Charles Sabel stammt das Konzept des „experimentellen Regierens” – Verwaltung verstanden als kontinuierlicher Lernprozess, der ständiges Verändern und Nachjustieren von Maßnahmen erforderlich macht. Notwendig dazu ist es, möglichst viele Beteiligte (Stakeholder) möglichst früh in alle relevanten Prozess zu integrieren. Nur so entsteht der Informationsfluss, der gutes Regieren möglich macht. Dazu gehören vor allem Menschen aus der Praxis, wie Polizist:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen. Statt top down wird bottom up regiert, basierend auf den jeweils aktuellen Informationen.
War das bei Corona der Fall? Waren die Regierungen und Verwaltungen vorbereitet auf das, was auf sie zukam, auch mental? Sie waren es nicht, und das ist kein Vorwurf. Wichtig ist, aus dem zu lernen, was sich in der Pandemie klar gezeigt hat. Das Team von Demos Helsinki beschreibt in ihrem Paper die Schritte: Von notwendigem Konsens – eine so zentrale Kategorie gelingenden Regierens – über die ersten Rahmenvorgaben der Regierung, die wichtig waren, um eine Richtung vorzugeben, bis zu den Feedback-Loops, die dann letztlich entscheidend waren, um den Erfolg der Maßnahmen zu ermöglichen.
Dabei ging es etwa darum, Menschen einzubinden, die in Krankenhäusern oder auf Intensivstationen arbeiten, Gewerkschaften, Sozialverbände, Arbeitgeberverbände – immer mit dem Ziel, eine möglichst breite Koalition zu bilden, vor allem aber möglichst viele verschiedene Blickwinkel, Informationen, Interessen mit einzubinden. Bis heute ist die Corona-Politik, auch das beschreibt das Team von Demos Helsinki, in vielem ein Negativbeispiel für eine Form des Regierens, die auf top down beharrt – die ideale Ebene für wirkungsvolle Maßnahmen wäre hier nicht die föderale und auch nicht die Landesebene, es wäre, wie in so vielen Fällen, die lokale Ebene.
Demütiges Regieren ist damit ein Regieren auf Augenhöhe, wie es sich in konkreten und damit lokalen Kontexten besonders gut herstellen lässt.