Was wäre, wenn wir lernen, einander mehr zu vertrauen?

Eine Re:flexion von Noah Schöppl, Co-Initiator von Re:Form

In ihrer ersten Rede zur Kon­sti­tu­ie­rung des 21. Deutschen Bundestages zitierte die neue Bun­des­tags­prä­si­den­tin Julia Klöckner (CDU) den ehemaligen Reichs­kanz­ler Otto von Bismarck: “Verfallen wir nicht in den Fehler, bei jedem An­ders­mei­nen­den entweder an seinem Verständnis oder an seinem guten Willen zu zweifeln.” In eine ähnliche Kerbe schlug der Al­ters­prä­si­dent Gregor Gysi (Die Linke) in seiner Rede, in der er die Mitglieder der de­mo­kra­ti­schen Parteien ermahnte, sich trotz Differenzen in der Sache nicht über die Ukraine-Frage zu verlieren.

Die eine Seite dürfe die andere nicht als “Kriegs­trei­ber” bezeichnen, genauso wenig wie umgekehrt von “Putin-Knechten” die Rede sein dürfe. Denn beiden, das sei die verbindende Grund­an­nah­me, gehe es genuin um Frieden – und sie suchten, so Gysi, diesen Frieden lediglich auf un­ter­schied­li­chen Wegen. Man muss kein Fan von Klöckner, Gysi oder Bismarck sein, um an­zu­er­ken­nen, dass sie eine essenzielle Bedingung für eine funk­tio­nie­ren­de de­mo­kra­ti­sche Zu­sam­men­ar­beit beschrieben haben.

Man kann die neuen Koalitionär:innen nur ermutigen, weder den Verstand noch den guten Willen des Gegenübers an­zu­zwei­feln. Es geht hier nicht darum, Harmonie her­bei­zu­re­den, sondern an­zu­er­ken­nen, dass Demokratie nur funk­tio­nie­ren kann, wenn ich die tie­fer­lie­gen­den Anliegen An­ders­den­ken­der gerade dann versuche zu verstehen, wenn es mir schwerfällt. Und es geht darum, diese Fähigkeit wie einen Muskel zu stärken und Strukturen zu schaffen, die Empathie und Dialog und nicht Feindbilder fördern.

Vertrauen kann man nicht befehlen oder bestellen. Es kann nur wachsen. Für die kommende Le­gis­la­tur­pe­ri­ode ist es wichtig, Formate zu finden, in denen Vertrauen entstehen kann. Wir brauchen politische Prozesse, die nicht von vornherein Differenzen zu einem Kompromiss schrumpfen, sondern die die gemeinsame Entwicklung trans­for­ma­ti­ver Strategien ermöglichen und fördern.

Mehr Trans­for­ma­ti­on, weniger Kompromiss

Es besteht heute weitgehend Einigkeit, dass große Trans­for­ma­tio­nen nötig sind, um den Her­aus­for­de­run­gen unserer Zeit zu begegnen. Dafür braucht es auch Mut, neue Wege der politischen Lö­sungs­fin­dung zu gehen. Häufig herrscht eine hartnäckige Nullsummen-Mentalität, in der es nur die Wahl gibt zwischen Deals, bei denen eine Partei die andere über den Tisch zieht, oder einem in­kre­men­tel­len Kompromiss, bei dem nur ein kleinster gemeinsamer Nenner übrig bleibt. Diese Form des Kuhhandels ist zwar der Stan­dard­pro­zess für Ko­ali­ti­ons­aus­schüs­se, es ist aber nicht der einzige mögliche Weg der Zu­sam­men­ar­beit. Convergent Fa­ci­li­ta­ti­on etwa ist ein in­ter­na­tio­nal erprobter Ansatz, der sich für Pro­zess­in­no­va­tio­nen anbietet. Diese von Miki Kashtan entwickelte Methode erlaubt es, gemeinsame Be­reit­schaft für trans­for­ma­ti­ve Lösungen aufzubauen, indem man die nicht-kontroverse Essenz der Anliegen und mögliche Hand­lungs­op­tio­nen iden­ti­fi­ziert.

Ein Beispiel: Für jedes Gesetz der neuen Le­gis­la­tur­pe­ri­ode werden die zuständigen Ab­ge­ord­ne­ten der Koalition in Ver­hand­lungs­run­den zu­sam­men­kom­men. Dafür gibt es alt­her­ge­brach­te, selbst-moderierte, oft chaotische Verfahren, die meist auf Kuhhandel her­aus­lau­fen. Mutige Akteur:innen können in jedem Ver­hand­lungs­for­mat Pro­zess­in­no­va­tio­nen einführen, bei­spiels­wei­se mithilfe einer ver­trau­ens­vol­len, pro­fes­sio­nell aus­ge­bil­de­ten Pro­zess­be­glei­tung für Convergent Fa­ci­li­ta­ti­on. Diese neue Rolle könnte eingedenk bestehender Macht­dy­na­mi­ken die Qualität und Effizienz der Ver­hand­lungs­ge­sprä­che anheben, indem die tie­fer­lie­gen­den Bedürfnisse hinter fest­ge­fah­re­nen Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen iden­ti­fi­ziert und in neue kreative Synthesen übersetzt werden.

Neben der Fach­lich­keit müssen diese notwendigen kol­la­bo­ra­ti­ven Fähigkeiten für Ge­setz­ge­bung auch in den Fraktionen, der Bun­des­tags­ver­wal­tung und den Ministerien geschult und gefördert werden. Das sys­te­ma­ti­sche Lernen aus den ver­schie­de­nen Erfahrungen kann zeigen, welche Prozesse zu weniger Frustration und mehr Trans­for­ma­ti­on führen. Das kann die Grundlage einer großen Reform der Ge­schäfts­ord­nung des Bundestages bilden.

Für einen großen Wurf der Staats­re­form – bei­spiels­wei­se bei einer Neuordnung von Kompetenzen und Fi­nanz­flüs­sen im Fö­de­ra­lis­mus – bedarf es zudem Ver­fas­sungs­än­de­run­gen, für die auch die Zu­sam­men­ar­beit mit der de­mo­kra­ti­schen Opposition und den Bun­des­län­dern nötig ist. Gerade weil es viel Frustration um den Ver­hand­lungs­pro­zess der letzten Ver­fas­sungs­än­de­rung zur Schul­den­brem­se gab, bietet sich dieser Bereich für eine über­par­tei­li­che Re­form­kom­mis­si­on mit Pro­zess­in­no­va­tio­nen wie Convergent Fa­ci­li­ta­ti­on an. So können die Chancen erhöht werden, dass eine breit getragene trans­for­ma­ti­ve Lösung entsteht, die vorher noch von keiner Partei denkbar war.

Mehr aktives, weniger aggressives Zuhören

In De­bat­ten­trai­nings wurde mir beigebracht, anderen in politischen Gesprächen so zuzuhören, dass ich ihnen danach am besten erklären kann, warum sie falsch liegen. Gleich an das nächste Ge­gen­ar­gu­ment zu denken, hilft in einer politischen Show-Debatte, ist aber nicht geeignet, Vertrauen aufzubauen und part­ner­schaft­lich zu­sam­men­zu­ar­bei­ten. Das Ergebnis dieser politischen De­bat­ten­kul­tur ist der Ver­trau­ens­ver­lust, der in den Feuilletons rauf und runter diskutiert wird.

Skeptiker mögen fragen: Ist es nicht naiv und un­rea­lis­tisch, einander mehr zu vertrauen? Im Gegenteil. An vielen Stellen verhalten sich Menschen bereits ko­ope­ra­ti­ver, als es die kon­ven­tio­nel­le Ge­schichts­er­zäh­lung, po­la­ri­sie­ren­de De­bat­ten­for­ma­te oder meist konflikt-suchende Me­di­en­be­richt­erstat­tung glauben lässt, wie der Historiker Rutger Bregman in seinem Buch “Im Grunde gut” darlegt. Dabei kann eine zynische Erzählung von Politik eine selbst­ver­stär­ken­de Wirkung haben.

Je mehr wir glauben, dass wir die Guten und die anderen die Bösen sind, desto größer wird die Ver­trau­ens­kri­se. Je mehr ich höre und glaube, dass An­ders­den­ken­de es nicht gut mit mir meinen, desto weniger meine ich es auch gut mit ihnen, wodurch ich ihnen wieder Grund gebe, mir zu misstrauen. Genauso kann aber auch eine positive Dynamik ausgelöst werden, wenn es uns gelingt, anderen mit ernst gemeintem Wohlwollen ge­gen­über­zu­tre­ten. Vertrauen baut sich auf, wenn wir uns zuverlässig so verhalten, dass andere Grund haben, uns zu vertrauen.

Wie könnte ein kon­struk­ti­ves Format im Bundestag aussehen, das diese skizzierten Prinzipien umsetzt? Bisher sind Sach­ver­stän­di­gen­an­hö­run­gen zu Ge­set­zes­vor­ha­ben im Bundestag leider größ­ten­teils geskriptete Thea­ter­stü­cke. Sach­ver­stän­di­ge lesen Texte vor und Abgeordnete stellen teils ab­ge­spro­che­ne Fragen, zu denen die Antworten schon vorbereitet sind. Das Format bleibt als Reihe von Reden weit unter seinem Potenzial für den wirklichen Er­kennt­nis­ge­winn. Es passiert nur selten, dass Abgeordnete sich mit Sach­ver­stän­di­ge austauschen, die von anderen Parteien eingeladen wurden.

Wenn schon nicht unter der Auf­merk­sam­keit des Plenums, dann doch zumindest in einer Sach­ver­stän­di­gen­an­hö­rung und im Ausschuss sollte es möglich sein, miteinander in einen wirklich offenen Austausch zu kommen, in dem man auch die validen Punkte der Gegenseite des de­mo­kra­ti­schen Spektrums anerkennt. Hier könnten Aus­schuss­vor­sit­zen­de mit dia­lo­gi­schen Formaten ex­pe­ri­men­tie­ren, die echtes in­ter­ak­ti­ves Lernen ermöglichen. Ein Teil der An­hö­rungs­zeit könnte in Klein­grup­pen genutzt werden, wo aktives Zuhören und ein dynamischer Dialogfluss mit kürzeren Re­de­bei­trä­gen praktiziert wird – so würden die Zeit und die Auf­merk­sam­keit aller Anwesenden besser genutzt.

Eine ver­trau­ens­vol­le­re Kultur ist eine Ge­lin­gens­be­din­gung für die nächste Le­gis­la­tur­pe­ri­ode

Um Vertrauen zu steigern, ist für die kommende Le­gis­la­tur­pe­ri­ode eine am­bi­tio­nier­te in­sti­tu­tio­nel­le Re­form­agen­da und das Entwickeln einer kon­struk­ti­ven politischen Kultur von höchster Priorität. Dabei muss man nicht auf “die anderen” warten. Trans­for­ma­ti­on ist nicht möglich, solange ich davon ausgehe, nur die anderen müssten sich ändern.

Um verloren gegangenes Vertrauen wie­der­her­zu­stel­len, bedarf es ernsthafter ver­trau­ens­bil­den­der Maßnahmen zwischen de­mo­kra­ti­schen Parteien. Und diese müssen sys­te­ma­ti­scher angelegt sein, als eine Grillparty auf der tra­di­tio­nel­len Ka­bi­netts­klau­sur auf Schloss Merseburg. Eine neue Bun­des­re­gie­rung könnte vormachen, wie es gelingen kann, ein “größeres Wir” zu werden – jenseits der eigenen Par­tei­in­ter­es­sen und des kleinsten gemeinsamen Nenners. Die Lehre aus dem Scheitern der Ampel darf nicht die Bestätigung eines zynischen Po­li­tik­ver­ständ­nis­ses sein. Es braucht den ehrlichen Ansporn: Wir können lernen, einander wieder mehr zu vertrauen. Wir können das besser.