Was wäre, wenn der Staat sys­te­ma­tisch auf Umsetzung seiner Versprechen aus­ge­rich­tet wäre?

Felix Cornehl, Associate bei Systemiq und ehemaliger Senior Advisor in der Prime Minister’s Im­ple­men­ta­ti­on Unit in Groß­bri­tan­ni­en

Die Am­pel­ko­ali­ti­on wird für manches in die Geschichte eingehen – Rekorde für die effektive Umsetzung ihrer Versprechen aus dem Ko­ali­ti­ons­ver­trag zählen nicht dazu. Laut dem Ko­ali­ti­ons­tra­cker von Frag­Den­Staat und Wikimedia Deutschland hat die Regierung nur etwas mehr als ein Viertel ihrer Vorhaben umgesetzt. 13 Prozent wurden teilweise umgesetzt, 36 Prozent wurden begonnen – bleibt trotzdem ein Viertel der Vorhaben, deren Umsetzung nicht einmal gestartet wurde oder die aktiv zu­rück­ge­stellt wurden. 

Koalitionen bedeuten Kompromiss. Somit bekommt keiner genau, was er oder sie möchte. Umso frus­trie­ren­der ist es, wenn Regierungen es nicht schaffen, Ver­spro­che­nes in die Tat umzusetzen. Es gibt natürlich Gründe, die eine fehlende Umsetzung erklären können – bei­spiels­wei­se der An­griffs­krieg Russlands gegen die Ukraine, die durch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt re­sul­tie­ren­de Haus­halts­kri­se und nicht zuletzt der frühzeitige Zu­sam­men­bruch der Koalition. Unabhängig davon, ob man diese Gründe nach­voll­zie­hen kann, das häufige Scheitern politischer Versprechen schürt Desillusion mit der Demokratie, Apathie und Po­la­ri­sie­rung. Das bezieht sich sowohl auf Wahl­ver­spre­chen als auch auf die Erbringung öf­fent­li­cher Dienst­leis­tun­gen.

Dieses Problem kannte auch Tony Blair, Groß­bri­tan­ni­ens Pre­mier­mi­nis­ter von 1997 bis 2007. Obwohl er mit einem historisch starken Mandat in 10 Downing Street einzog, war er nach seinen ersten Re­gie­rungs­jah­ren frustriert. Trotz erheblicher In­ves­ti­tio­nen wurden öffentliche Dienst­leis­tun­gen in seiner ersten Amtszeit nicht signifikant besser. Aus dieser Frustration heraus beauftragte Tony Blair 2001 einen vertrauten Beamten aus dem Bil­dungs­mi­nis­te­ri­um, Sir Michael Barber, die Prime Minister’s Delivery Unit (PMDU) zu etablieren. 

Die Idee war einfach. In den Worten von Barber: „Policy is 10 percent and im­ple­men­ta­ti­on is 90 percent“. Auf Deutsch, Umsetzung ist in der Politik fast alles. Die PMDU sollte die Umsetzung einer Handvoll der wichtigsten Prioritäten des Pre­mier­mi­nis­ters kon­trol­lie­ren und be­schleu­ni­gen. Klare Ziele wurden erst gesetzt und dann rigoros verfolgt. Mitarbeiter der PMDU, zu­sam­men­ge­setzt aus Experten der öf­fent­li­chen Verwaltung und ehemaligen Un­ter­neh­mens­be­ra­tern, arbeiteten eng mit betroffenen Ministerien und anderen Ein­rich­tun­gen zusammen.

Die Teams un­ter­such­ten in „Deep Dives“ Um­set­zungs­pro­ble­me vor Ort und arbeiteten dafür mit An­ge­stell­ten in Kran­ken­häu­sern, Schulen, Polizei oder ÖPNV zusammen. Ebenso waren aus­führ­li­che Da­ten­ana­ly­sen ein we­sent­li­cher Bestandteil. Alle zwei Wochen traf sich Tony Blair mit der PMDU und relevanten Ministern zu „Delivery Stocktakes“. Diese Be­stands­auf­nah­men stellten sicher, dass ver­ant­wort­li­che Minister und Beamte Re­chen­schaft für die Erfüllung von Re­gie­rungs­zie­len trugen. Durch diesen Fokus und die daraus re­sul­tie­ren­de Kultur der Ver­ant­wor­tung konnten Barrieren und Probleme schnell iden­ti­fi­ziert und angegangen werden

An dieser Idee schien etwas dran zu sein. Im Schulsystem stieg bei­spiels­wei­se der Anteil der Elf-jährigen, die Standards in Lesen und Mathematik erfüllten, zwischen 1999 und 2004 von 75 auf 83 Prozent. Das Ge­sund­heits­sys­tem konnte drastische Reduktionen der Wartezeiten verzeichnen, zum Beispiel sank der Anteil der Patienten, die länger als 12 Monate auf eine Operation warten mussten, von 5,5 Prozent im Jahr 2000 auf nur noch 0,03 Prozent im Jahr 2004. Die Gewalt-Kri­mi­na­li­tät sank zwischen 2002 und 2005 um 11 Prozent. Die Rolle der PMDU bei diesen Erfolgen wurde durch mehrere unabhängige Bewertungen, etwa durch das National Audit Office, bestätigt

Der „De­li­ve­ro­lo­gy“-Ansatz wurde außerdem erfolgreich von Regierungen in anderen Ländern angewandt (unter anderem Australien, Chile, Kanada, Malaysia, die USA). Nicht nur das: Zwar wurde die PMDU 2010 von der Koalition zwischen den Kon­ser­va­ti­ven und den Liberal Democrats abgeschafft, aber bereits 2012 rief David Cameron die Prime Minister’s Im­ple­men­ta­ti­on Unit (PMIU) ins Leben. Die PMIU teilte große Teile der DNA der PMDU, machte aber auch einige Anpassungen. Um das Risiko von Fehl­an­rei­zen oder kurz­sich­ti­gen Lösungen zu verringern, setzte die PMIU weniger auf das Erreichen quan­ti­ta­ti­ver Ziele. Außerdem wurde der teils kon­fron­ta­ti­ve Stil durch einen Ansatz ersetzt, welcher die kol­la­bo­ra­ti­ve Lö­sungs­fin­dung mit relevanten Ministerien stärker hervorhob

Seitdem haben ver­schie­de­ne Pre­mier­mi­nis­ter und Regierungen un­ter­schied­li­che Ansätze ausprobiert. Unter Keir Starmer gibt es heute eine „Mission Delivery Unit“ sowie ein „Mission Control Center“. Außerdem haben ver­schie­de­ne Ministerien eigene Delivery oder Im­ple­men­ta­ti­on Units etabliert. Es gibt also ver­schie­de­ne Ansätze, die sich Deutschland abschauen und entlang der Prioritäten und Eigenheiten der deutschen Verwaltung anpassen könnte

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Dieser Text ist am 20. März 2025 in unserem Re:Form-Newsletter versendet worden. Melde Dich jetzt an