Was wäre, wenn wir lernen, einander mehr zu vertrauen?

Philipp von der Wippel, Gründer und Co-Ge­schäfts­füh­rer von Pro­ject­Tog­e­ther

Das Drama der Demokratie ist ihre Kurz­at­mig­keit. Wir haben das gerade wieder im Wahlkampf erlebt, wir werden es – so steht zu befürchten – in den kommenden Wochen wieder erleben. Wo es um grund­sätz­li­che Fragen unserer gemeinsamen Zukunft in diesen Kri­sen­zei­ten gehen sollte, werden Sym­bol­the­men verhandelt, die nur einen momentanen rhe­to­ri­schen Landgewinn versprechen.

Wie aber könnte es anders gehen? Die Lang­fris­tig­keit von politischen Ent­schei­dun­gen ist im politischen Prozess bisher zu wenig vorgesehen. Politiker:innen werden auf vier Jahre gewählt, das ist der Horizont ihres Handelns. Alle Projekte, die sie vor­an­trei­ben, müssen in diesen vier Jahren Früchte tragen. Zumutungen sind damit nahezu aus­ge­schlos­sen, radikaler Wandel auch. Aber genau das ist nun er­for­der­lich, genau das ist die Aufgabe der neuen Bun­des­re­gie­rung: Radikaler Wandel heute und morgen für eine gute Demokratie morgen und übermorgen.

Die Erfahrung zeigt: Ent­schlos­sen gehandelt und reformiert wird erst, wenn die Folgen des Nicht-Handelns unmittelbar spürbar sind, wenn eine Krise bereits begonnen hat. Der ehemalige wirt­schafts­po­li­ti­sche Berater von Bun­des­kanz­le­rin Angela Merkel, Lars-Hendrik Röller, nennt als einen we­sent­li­chen Faktor das „Prä­ven­ti­ons­pa­ra­dox“: „Wenn die Politik ein Problem rechtzeitig löst, sieht keiner, dass das wirklich nötig war. Aber wenn dabei etwas schiefläuft, werden sofort Schuldige gesucht und Kon­se­quen­zen gefordert.“

Genau diese Fehl­stel­lun­gen im politischen Prozess führen dazu, dass stra­te­gi­sche Wei­chen­stel­lun­gen nicht unternommen werden. Bisher hat es für Deutschland gereicht, immer erst dann zu handeln, wenn es eigentlich schon kracht, wenn die Aus­wir­kun­gen schon spürbar sind. Fahren auf Sicht ist der Politikstil, der in Deutschland praktiziert wird.

Das ging in den letzten 80 Jahren gut. Unter anderem auch deshalb, weil viele der lang­fris­ti­gen geo­stra­te­gi­schen Ent­schei­dun­gen die USA für Deutschland gleich mit getroffen haben und Deutschland im Fahrwasser mit­schwim­men konnte. Deutschland musste nicht wirklich gestalten, reagieren war oft schon genug.

Die Design-Frage lautet also: Was muss sich am politischen Prozess ändern, damit langfristig gestaltet und nicht nur verwaltet und reagiert wird? Dass Prävention und Strategie sich durchsetzen? Dass Wei­chen­stel­lun­gen vorgenommen werden, solange man die Optionen selbst in der Hand hält?

Ein wichtiger Schritt wäre es, lang­fris­ti­ge Strategie im politischen Prozess in­sti­tu­tio­nell zu verankern. Aktuell wird jedes Thema – ob es kurzfristig, mit­tel­fris­tig oder langfristig ist – in gleicher Weise bearbeitet. Die gleichen Aus­schuss­sit­zun­gen, die gleichen Anhörungen, das gleiche Prozedere. Vieles davon ist im Format ungeeignet, um eine lang­fris­ti­ge Strategie für das Land zu erarbeiten.

Finnland dagegen hat ein eigenes Zu­kunfts­ko­mi­tee im Parlament etabliert, das lang­fris­ti­ge Po­li­tik­stra­te­gien entwirft. Alternativ zu einem Bun­des­tags­aus­schuss könnte eine Zu­kunfts­ver­samm­lung als eine Art Dritte Kammer, besetzt aus allen Parteien und aus allen Bereichen der Ge­sell­schaft, am Beispiel der Bun­des­ver­samm­lung, lang­fris­ti­ge Strategie ausarbeiten.

Diese Dritte Kammer sollte auch die Art, wie sie arbeitet, neu denken und sich bewusst vom sonstigen par­la­men­ta­ri­schen Betrieb absetzen. Die Inhalte dieser lang­fris­ti­gen Strategien sollten Konsens unter allen de­mo­kra­ti­schen Parteien sein – und nicht Gegenstand der par­tei­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung. Bei­spiels­wei­se würde man das stra­te­gi­sche Ziel gesetzlich festhalten, dass Deutschland bis 2035 das Ren­ten­sys­tem reformiert.

Diese lang­fris­ti­gen Ziele würden mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen und könnten nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden. Somit wären lang­fris­ti­ge Ziele über Le­gis­la­tur­pe­ri­oden hinweg bindend. Neben den lang­fris­ti­gen Zielen, die im Konsens beschlossen werden, sollten alle Bun­des­ge­set­ze, die meist auf kurz­fris­ti­ge oder mit­tel­fris­ti­ge Wirkung abzielen, auch die Aus­wir­kun­gen auf zukünftige Ge­ne­ra­tio­nen be­rück­sich­ti­gen – wie es etwa der „Well-being of Future Generations Act“ in Wales vorsieht.

Ein weiterer Schritt wäre es, die Wahl­pe­ri­oden zu verlängern und die Wahltermine zu bündeln. Um mehr lang­fris­ti­ges Handeln in den politischen Prozess zu bringen, sollten wir die Wahlzyklen des Bundestags auf fünf Jahre anheben. Im Großteil aller Mit­glied­staa­ten der Eu­ro­päi­schen Union ist das bereits der Fall. Und auf Länder- und Kom­mu­nal­ebe­ne werden die Parlamente auch größ­ten­teils für fünf Jahre gewählt. Mit dem zu­sätz­li­chen Jahr könnte eine Bun­des­re­gie­rung länger inhaltlich arbeiten, bevor der Wahlkampf wieder beginnt. Ebenfalls sollten die Wahltermine von Bun­des­tags­wahl, Land­tags­wah­len, Kom­mu­nal­wah­len, Europawahl auf ein oder zwei Daten gebündelt werden.

Der aktuelle Zustand, dass alle paar Monate eine Land­tags­wahl stattfindet, führt dazu, dass auch die Bun­des­po­li­tik in Wahlkampf umschaltet und nervös auf Umfragen schaut. Mit der Bündelung der diversen Wahlen an wenigen Terminen könnte man den „Dauer-Wahlkampf-Modus“ beenden und mehr Zeiträume für sach­ori­en­tier­te Gestaltung schaffen.

Schließlich wäre es wichtig, Anreize für lang­fris­ti­ges Handeln von Politikern und Po­li­ti­ke­rin­nen zu schaffen. Die politischen Ämter sollten auf eine oder zwei Wahl­pe­ri­oden begrenzt werden. Wer nicht wie­der­ge­wählt werden muss, kann sich noch mehr auf die Sache kon­zen­trie­ren. Er oder sie kann unpopuläre Ent­schei­dun­gen treffen.

Darüber hinaus sollten Politiker:innen mit An­reiz­sys­te­men motiviert werden, über Wahlzyklen hinaus zu denken. Bei­spiels­wei­se könnte eine Stiftung Gute Politik, angelehnt an die Stiftung Warentest, im Abstand von zehn Jahren die Politik eines Politikers bewerten und mit zeitlichem Abstand anschauen, welchen Mehrwert oder Schaden ein Gesetz oder ein Programm gebracht hat. Politiker:innen, deren Politik beim Zeitpunkt der Ent­schei­dung unpopulär war, sich aber im Nachhinein als richtig und wertvoll her­aus­stell­ten, sollten Boni und besondere Aus­zeich­nun­gen bekommen.

Lang­fris­tig­keit von Politik ist möglich. Aber sie muss in den politischen Prozess pro­gram­miert werden, aktuell ist er darauf nicht aus­ge­rich­tet. Durch die tek­to­ni­schen Ver­schie­bun­gen in der Geopolitik ist Deutschland aber gezwungen, stra­te­gi­sche und vor­aus­schau­en­de Politik zu lernen. Und das sehr schnell.

Dieser Text ist am 27. Februar 2025 in unserem Re:Form-Newsletter versendet worden.