Eine Re:flexion von Philipp von der Wippel,
Gründer und Geschäftsführer von ProjectTogether.
2015 hätte ein Ursprungsmoment für ein anderes, offenes, positives Staatsverständnis in Deutschland sein können: Knapp eine Million Menschen suchten in Deutschland Schutz. Ihre Aufnahme war nur durch die enge Zusammenarbeit zwischen allen gesellschaftlichen Akteur:innen möglich. Zivilgesellschaft und Staat, freiwillige Helfende, soziale Organisationen, die Landespolizei, Unternehmen: Wir alle sind für einen Moment über uns hinausgewachsen und haben das übliche Denken in Zuständigkeiten und Interessengruppen hinter uns gelassen.
Am Übergang von 2023 zu 2024 ist es nun sinnvoll, noch einmal auf das zu blicken, was 2015 und seither gelungen ist. Wieder geht es um die Frage, ob und wie Geflüchtete in Deutschland aufgenommen werden können. Viele Diskurse ähneln sich. Oft überdeckt gesellschaftlich produzierte Angst den klaren Blick auf das, was positive und gelebte Realität in diesem Land ist. Knapp zwei Jahre vor der Bundestagswahl 2025, die sehr im Zeichen der Migration stehen wird, ist es heute wichtig, die Lehren der jüngeren Vergangenheit zu nutzen, um eine nachhaltige Migrations- und Einwanderungspolitik für das Deutschland der Zukunft zu gestalten. Und dafür ist ein neues Verständnis von Staat notwendig.
Ein modernes Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und Staat
Eine Demokratie funktioniert dann gut, wenn sich der Wille des Volkes möglichst präzise in der Wirklichkeit abbildet. Das hat aber zur Voraussetzung, dass der Staat selbst in der Lage ist, die öffentlichen Aufgaben – in diesem Fall die Aufgabe der Ankommens- und Integrationsprozesse – zu erfüllen. Diese Frage ist für die Gesundheit der Demokratie elementar. Viele Kommentator:innen hatten 2015 ein Staatsversagen vorausgesagt – dieses Staatsversagen ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Zivilgesellschaft und Staat stemmten zusammen eine Mammutaufgabe, die der Staat alleine nicht hätte leisten können. Die gesellschaftliche Leistungsfähigkeit von 2015 hätte der Ausgangspunkt einer Debatte sein können, was das für unser Staatsverständnis im 21. Jahrhundert bedeutet – wie ein modernes Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und Staat gelingen kann.
Es ist eine Art Arbeitsteilung: Die Zivilgesellschaft ist näher an der Zielgruppe, sie kann flexibler und damit oft effektiver handeln. Der Staat hat gesetzliche und finanzielle Kraft, er hat das Machtmonopol. Aber das beste Gesetz ist nicht nützlich, wenn es nicht umsetzbar ist. Die beste Regel bringt nichts, wenn sie die Menschen, an die sie gerichtet ist, nicht erreicht. Was die einen nicht können, können die anderen. Es könnte eine kongeniale Partnerschaft mit einer Vielzahl an zivilgesellschaftlichen Organisationen und ehrenamtlichen Initiativen sein – aber das ist in Deutschland wenig eingeübt. Es ist ein Denken, das vielen Entscheidungsträger:innen in den Strukturen, also Ministerien, Parteien, Wohlfahrtsverbänden, alteingesessenen Organisationen, fremd ist. Nicht wenige von ihnen sehen darin einen Rollenbruch. Nur in dem Moment der Krise konnte diese Partnerschaft sich zeigen – bevor sie als Einmaligkeit erzählt und nicht als neuer Normalzustand erkannt wurde.
Was notwendig ist, und da ist die Frage der Einwanderung ein aktueller Testfall, ist ein neues Staatsverständnis, das bottom-up und top-down vereint.
Seit 2015 sind viele innovative Lösungsansätze mit stabilen und zugleich flexiblen Strukturen entstanden: Neue zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit ihren Lösungen mithelfen, dass Menschen beim Ankommen unterstützt werden. Zum Beispiel die ReDi School, die Programmierkurse für Geflüchtete durchführt und deren Angebot eine deutlich höhere Vermittlungsquote in Jobs hat als vergleichbare Angebote der öffentlichen Hand hat. Durch eine innovative Partnerschaft mit der Stadt München konnten allein in dieser Stadt 5000 Geflüchtete in Programmierkursen geschult werden. Ein anderes Beispiel ist Integreat, eine digitale Integrations-Plattform, die Neuzugewanderten alle relevanten Informationen der jeweiligen Region in ihrer Landessprache vermittelt. Bundesweit wird Integreat bereits von 25 Prozent aller Städte und Landkreise in der Integrationsarbeit eingesetzt und ist mit über drei Millionen Zugriffen pro Jahr die meistgenutzte digitale Integrations-Plattform.
Die Zivilgesellschaft als Triebfeder für Gemeinwohl-Innovation
Bei genauerer Betrachtung dieser zivilgesellschaftlich getriebenen und auf das Gemeinwohl ausgerichteten Innovationen zeigt sich eine neue Rolle, die zivilgesellschaftliche Akteur:innen übernehmen: Im klassischen Verständnis sollten sie Transparenz schaffen und die Politik kritisieren, wenn sie ihre Arbeit schlecht macht, eine marginalisierte Gruppe repräsentieren und ihr eine Stimme geben. Diese traditionellen Rollen sind unverändert sehr wichtig – aber die Zivilgesellschaft kann noch mehr machen: als Lösungsentwicklerin, als Triebfeder für Gemeinwohl-Innovation, die „Entwicklungs- und Forschungsabteilung“ unserer Gesellschaft, R&D der Demokratie, die Erneuerung öffentlicher Leistungen, Lösungen, um die Handlungsfähigkeit staatlichen Handelns zu erhöhen.
Das ist eine grundsätzliche Veränderung und Verschiebung der eher eingeübten Rollen in der Demokratie und eine wichtige Richtungsentscheidung für das 21. Jahrhundert: Die Zivilgesellschaft versteht sich hier als konstruktive Kraft für einen veränderten Staat, nicht nur als konfrontatives Korrektiv für staatliches Handeln. Wenn zivilgesellschaftliche Akteur:innen mit dem Staat kooperieren und ihn in dem Prozess verändern, dann ist das etwas anderes als bei einer eher klassischen „Private-Public-Partnership“, also der Kollaboration von staatlichen Institutionen und privatwirtschaftlichen Unternehmen, die selten im öffentlichen Interesse handeln und den Gesetzen des Marktes unterworfen sind.
Genau das ist der Unterschied zwischen einem Staat, der Public-Private-Partnerships fördert, und einem Staat, der auf Public-Civic-Partnerships setzt: Bei Public-Private-Partnerships bleibt immer die Spannung der unterschiedlichen Zielsetzungen – der Staat will öffentliche Probleme lösen, das Unternehmen will den Gewinn maximieren. Bei der Public-Civic-Partnership dagegen besteht diese Ungleichheit der Zielsetzung nicht – Zivilgesellschaft und Staat zielen gleichermaßen darauf, öffentliche Probleme zu lösen. Das Innovationspotential dieser Art von Partnerschaften ist enorm, es ist notwendig – aber scheitert aktuell an der unnötigen Selbstbeschränkung des Staates. Die Strukturen des Staates sind auf Public-Civic-Partnerships nicht ausgerichtet.
Der Staat sind wir alle
Was notwendig ist, und da ist die Frage der Einwanderung ein aktueller Testfall, ist ein neues Staatsverständnis, das bottom-up und top-down vereint. Dafür ist es wichtig, nicht in einen veralteten Dualismus zu verfallen: In der Vergangenheit wurde die Zivilgesellschaft einerseits oft als Substitut für den Staat eingespannt, Aufgaben an Freiwillige abgewälzt, unter dem Deckmantel der „Selbstorganisation“. Andererseits wurde die Zivilgesellschaft oft auch als nettes Add-on verstanden: Der Staat macht diesem Verständnis nach die eigentliche Arbeit, er sorgt dafür, dass alle öffentlichen Leistungen erbracht werden, hält den Laden der Republik am Laufen – die Zivilgesellschaft stört diesen Betrieb nicht groß; wenn sie aktiv ist, ist es schön, wenn sie passiv ist, fehlt auch nicht wirklich etwas. Damit fehlt ein wesentlicher Beitrag zum Gemeinwohl.
Was sich im Herbst 2015 gezeigt hat, durchbricht diesen Dualismus und zeigt ein neues Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat: Der Staat sind wir alle, der Staat ist die Bevölkerung in dem, was wir tun. Der Staat ist dabei etwas anderes als die Gesellschaft, die Summe aller Menschen, die in Deutschland leben. Der Staat ist eher die Summe aller Menschen, die sich für die Gesellschaft engagieren, die einander helfen, die aus Gesellschaft Gemeinschaft machen. Um für die Zukunft vorbereitet zu sein, und für die Herausforderungen, die auf uns warten, ist diese Art von Staatsverständnis notwendig – die Klimakrise, die technologische Revolution, die alternde Gesellschaft erfordert einen Staat, der elastisch ist, resilient, adaptionsfähig. Kein statischer Staat, nicht abwartend oder hierarchisch – wir hier unten, die dort oben. Sondern ein partizipativer Staat, offen und veränderbarer.
Was bedeutet es, wenn die Verwaltung wie ein Team arbeitet?
Eine Herausforderung staatlichen Handelns ist die Frage, ob der Staat liefert. Oder warum der Staat nicht liefert. Man kann das als „responsiveness“ beschreiben, also das Gefühl, dass da Menschen arbeiten, die verstehen, was die Gesellschaft will, was wir brauchen. Und wenn es hakt, wenn man merkt, dass da etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, erkennt man oft, dass es an den Abläufen innerhalb der Verwaltung liegt – wie sie organisiert sind und wie falsche Prioritäten und Partikularismen die Abläufe behindern. Modul F ist ein Beispiel dafür, wie es anders gehen könnte; und verweist doch gleichzeitig auf die Dysfunktionalitäten im System: Wie können alle im Staat arbeitenden Menschen lernen, sich als ein Team Staat zu begreifen? Für diesen kulturellen Wandel müssen sich nicht nur Mitarbeitende aus Bund, Ländern und Kommunen als Kollegen begreifen, es müssen auch die Gräben zwischen Referaten und Abteilungen überwunden werden. Zuständigkeiten haben ihre Funktion, aber wenn eine risikoaverse Kultur des “Das ist nicht meine Zuständigkeit” übernimmt, verliert staatliches Handeln leicht an Dynamik. Spoiler Alert: Auch der Föderalismus hilft hier nicht wirklich weiter.