Fahrplan Staats­re­form: Stra­te­gi­sche Vorausschau macht Politik für eine unsichere Zukunft hand­lungs­fä­hig 

Dr. Florence Gaub, Po­li­tik­wis­sen­schaft­le­rin, Zu­kunfts­for­sche­rin und Direktorin des For­schungs­be­reichs des NATO Defense College in Rom

»Das Instrument der stra­te­gi­schen Vorausschau werden wir wirksam verankern.«

Aus dem Ko­ali­ti­ons­ver­trag, S.57.

Stra­te­gi­sche Vorausschau ist ein wirksames Mittel, um Politik hand­lungs­fä­hig für eine Zukunft zu machen, die voller Un­si­cher­heit ist. Sie wird auf Bundesebene schon in ver­schie­de­nen In­sti­tu­tio­nen verwendet, etwa im Auswärtigen Amt, im Bun­des­nach­rich­ten­dienst und in der Bundeswehr. Was bisher fehlt, ist die Verankerung auf höchster Ebene.
 
Und das ist das Problem: Wenn es nicht von oben gewollt und vorgegeben ist, wenn es nicht res­sort­über­grei­fend aufgesetzt ist, wenn es nicht gleich­zei­tig das Vertrauen und das Zuarbeiten der ver­schie­de­nen Ministerien gibt, dann können wir nicht zeigen, wie sinnvoll dieses Strategie-Instrument ist.
 
Der Nationale Si­cher­heits­rat könnte das leiten. Aber ich habe die Sorge, dass es nicht schnell genug konkrete Resultate gibt und die stra­te­gi­sche Vorausschau schnell wieder in der Schublade landet. Akteur:innen sind leider immer noch in der Bringschuld, wenn sie diese Art von Innovation einführen wollen, sie müssen erst zeigen, was sie können.
 
Dabei ist klar: Wir haben in Deutschland ein Stra­te­gie­pro­blem. Wir tun uns schwer, uns selbst als stra­te­gi­sche Einheit zu sehen, die bestimmte Interessen hat. Wir tun uns überhaupt schwer, Zukunft zu denken. Es gibt in Deutschland kein aus­ge­präg­tes Zu­kunfts­den­ken, keine Vision. Sobald wir anfangen, starke politische Visionen zu formulieren, kommen wir politisch in schweres Wasser.
 
Friedrich Merz ist sich dessen bewusst. Die Frage ist, wie weit er gehen will. Ein Vorbild könnte etwa das Projekt „España 2050” sein – eine aufwändig erarbeitete Vision: Gemeinsam mit Unternehmen und der Zi­vil­ge­sell­schaft wurde ein Bild für das Spanien der Zukunft entworfen. Es wäre toll, wenn Merz sich so etwas trauen würde – dann müssten sich die Deutschen endlich mal überlegen, was für ein Land sie eigentlich wollen.

Von dieser Art Vision leiten sich dann die un­ter­schied­li­chen Strategien ab. In Deutschland machen wir es meistens genau umgekehrt. Wir bündeln Strategien ohne wirkliche Vision. Aber wenn wir nicht wissen, was wir wollen, ist es egal, wohin wir gehen. Deshalb reagieren wir meistens auf die Strategien der anderen.
 
Andere Länder sind da viel weiter. In Finnland zum Beispiel hat jedes Ministerium einen Zu­kunfts­be­auf­tra­gen, der als eine Art Interface agiert. Auch das haben wir nicht. Es gibt zwar in den ver­schie­dens­ten Ministerien Szenarien für bestimmte Fragen der zukünftigen Entwicklung, aber es fehlt die Ko­or­di­na­ti­on mit anderen Ministerien. Wir müssten konsequent den Netz­werk­ge­dan­ken ausbauen, um zu besserer Zu­kunfts­pla­nung zu kommen.
 
Das Beispiel Finnland zeigt aber auch, dass es nicht die eine Lösung für die stra­te­gi­sche Vorausschau gibt. Er­for­der­lich sind ver­schie­de­ne Maßnahmen. Man könnte etwa im Parlament einen Zu­kunfts­aus­schuss einrichten, der einen jährlichen Zu­kunfts­be­richt erarbeitet. Im Grunde aber braucht es einen mul­ti­di­men­sio­na­len Ansatz – am Ende müssen möglichst alle das Gefühl haben, dass sie die Vision gemeinsam entwickelt haben.
 
Aber genau das ist in Deutschland das Problem: Visionen machen uns Angst. Zukunft müssen wir wollen, Zukunft müssen wir gestalten – wir denken eher daran, dass Visionen leicht missbraucht werden können. Wir haben oft Angst vor uns selbst, scheint mir. Dabei ist Vertrauen die Grundlage für gute Politik und eine gelingende Zukunft.
 
In Wales gibt es deshalb einen eigenen „Com­mis­sio­ner for Future Generations”. In Deutschland müsste das eine Person sein, die glaubwürdig nicht nur eine Partei sym­bo­li­siert, sondern die für eine neue Zeit steht – jemand außerhalb des politischen Ta­ges­ge­schäf­tes. Ent­schei­dend ist, dass die exis­tie­ren­den Parteien überhaupt mal wieder anfangen, den Dialog über mögliche Zukünfte aufzunehmen.
 
Ich will mit meiner Arbeit auch dazu beitragen. Es sind schließlich die exis­tie­ren­den staatlichen Strukturen, die die Zukunft gestalten helfen.

Fahrplan Staats­re­form: Unsere Sonderreihe zum Ko­ali­ti­ons­ver­trag
Wir blicken auf einen Ausschnitt aus dem Ko­ali­ti­ons­ver­trag – und fragen: Was muss jetzt konkret passieren, damit Re­form­ver­spre­chen Realität werden? Stimmen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zi­vil­ge­sell­schaft geben Impulse für eine Staats­mo­der­ni­sie­rung, die wirkt.

Diesen Beitrag haben wir am 19. Juni 2025 in unserem Re:Form-Newsletter versendet. Melde Dich jetzt an und erhalte die neuesten Ausgaben direkt in Dein Postfach.