Eine Re:flexion von Hans-Josef Vogel.

Hans-Josef Vogel ist ehemaliger Re­gie­rungs­prä­si­dent des Re­gie­rungs­be­zirks Arnsberg und Bür­ger­meis­ter der Stadt Arnsberg. Basierend auf seiner Re:flexion möchten wir mit Euch ins Gespräch und ins gemeinsame Handeln kommen. Schreibt uns dazu gerne via: reform@pro­ject­tog­e­ther.org. 

Mein Vorschlag, um die Verwaltung und letztlich die Demokratie in Deutschland zu verändern und zu verbessern, ist eigentlich logisch: Wir müssen direkt zu Beginn im Ge­setz­ge­bungs­pro­zess den Zu­sam­men­hang zwischen Re­gel­set­zung und Re­gel­um­set­zung beachten. Re­gel­set­zung und Re­gel­um­set­zung jeweils und im Zu­sam­men­hang besser machen. Und das in einer unsicheren Welt.

Leider ist es nicht so einfach: Seit 30 Jahren wird versucht, dieses Thema unter der Überschrift Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung anzupacken, nicht allzu erfolgreich. Das hat zur Folge, dass das Vertrauen in staatliches Handeln sinkt – weil bestimmte Dinge einfach nicht oder viel zu langsam funk­tio­nie­ren. Sehr direkt gesagt: Wir kümmern uns zu wenig um die Lösung von realen Problemen von realen Menschen.

Was wir brauchen, in der Verwaltung und darüber hinaus in der Ge­sell­schaft, sind neue Leitbilder und einen kon­se­quen­ten In­stru­men­ten­kof­fer: Die antraglose Verwaltung wie auch der wir­kungs­ori­en­tier­te Staat sind solche Leitbilder. Die Kon­zen­tra­ti­on auf Ziele ist ein wichtiges Element, um staatliches Handeln zu verändern und auch den Prozess der Re­gel­set­zung. Und auch die Sprache muss ver­ständ­lich werden bei Planung, Vollzug und Kontrolle staatlichen Handelns.

Es ist wichtig, dass wir zu einer Ex-ante-Prüfung für neue Regelungen kommen – also schon im Prozess der Re­gel­set­zung testen, ob eine Anwendung praxis- und vor allem auch di­gi­tal­taug­lich ist. Es nützt nichts, wenn wir scheinbar perfekte Gesetze machen, ohne an die Umsetzung und Wirkung zu denken.

Bislang erfolgen Prüfungen allenfalls ex post, also im Nachhinein, etwa durch den Nor­men­kon­troll­rat – aber auch das wird immer kom­pli­zier­ter, je mehr wir regulieren und Beihilfen zahlen: Allein in den NRW-Be­zirks­re­gie­run­gen gibt es knapp 300 ver­schie­de­ne Förderungen. Da kann man die Wirkung von Maßnahmen gar nicht mehr messen.

Eine Schwie­rig­keit, die ich hierbei sehe, ist die Schnel­lig­keit oder auch Eile, mit der Gesetze oft gemacht werden: Man nimmt sich nicht die Zeit, schon bei der Ent­wurfs­for­mu­lie­rung einen Praxis- und Digital-Check zu machen. Aber Eile geht hier zulasten von Pra­xis­taug­lich­keit und Wirkung.

Eine weitere Her­aus­for­de­rung bilden Unter- oder Über­ver­flech­tun­gen der Ver­wal­tun­gen und das über mehrere Ebenen. Hier geht es vor allem um Ko­or­di­na­ti­on oder Bündelung und um konkrete Schnitt­stel­len­be­ar­bei­tung – wie wir also miteinander arbeiten wollen. Ein Beispiel: Es wird viel zu viel sukzessiv gearbeitet, eine Stelle nach der anderen. Der bessere Weg wäre es, wenn wir viel mehr simultan arbeiten, also ver­schie­de­ne Stellen gleich­zei­tig.

Generell gilt: Wir brauchen mehr Ex­pe­ri­men­tier­räu­me und Ex­pe­ri­men­tier­klau­seln, um schneller zu lernen. Und mehr Vertrauen, es kann nicht alles und das auch noch eindeutig geregelt werden. Die Vorschrift ist nicht der Staat. Übrigens haben wir schon im bestehenden System enorme Spielräume, um schneller zu werden, wenn wir nur eine klare Zielsetzung haben. Im Bereich der Windenergie etwa gibt es im selben Rechts­rah­men, bei der einen Behörde durch­schnitt­li­che Ge­neh­mi­gungs­zei­ten von 14 und bei anderen von 29 Monaten. Also: Es gibt gute Beispiele, übertragt sie!

Eines der großen Er­folgs­pro­jek­te war die Mo­der­ni­sie­rung der Kommunen in den neunziger Jahren, von unten angeschoben, in Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und Kooperation von an die 60 Städten. In In­no­va­ti­ons­zir­keln verbanden sich Schritt­ma­cher aus Zi­vil­ge­sell­schaft und Wis­sen­schaft. Die In­no­va­tio­nen: neue stra­te­gi­sche Steuerung, Leis­tungs­bün­de­lung in Stadtbüros als Front-Offices, kun­den­ori­en­tier­te Fach­be­rei­che, Leis­tungs­ver­glei­che und Be­schwer­de­ma­nage­ment, kommunale Leistungen in Co-Produktion von Verwaltung und Bürger:innen, Ge­schäfts­stel­len für bür­ger­schaft­li­ches Engagement, Qua­li­täts­ga­ran­tien. Die Kommunen schufen sich neue Ge­stal­tungs­räu­me und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten.

Die Bertelsmann Stiftung hat damals sehr geholfen, hat wichtige Initiativen ergriffen, Reinhard Mohn persönlich, und auch die Hochschule für Ver­wal­tungs­wis­sen­schaft in Speyer. Es war eine aus­ge­zeich­ne­te Kombination auch zi­vil­ge­sell­schaft­li­cher Partner, das war die Er­folgs­for­mel. Man sieht hier das Potenzial: Wenn ein System sich selbst erneuern will, ist die Zi­vil­ge­sell­schaft er­for­der­lich.

Wir sind wieder an solch einem Punkt. In der Ge­sell­schaft ist der Eindruck entstanden: Der Staat schafft es nicht, seine Hand­lungs­fä­hig­keit hat abgenommen, das Ganze funk­tio­niert nicht, es verliert sich in Ein­zel­fäl­len. Inkompetenz wird unterstellt. Und es gibt eine Form der Po­li­tik­si­mu­la­ti­on, die auch zu Ver­trau­ens­ver­lust führt. Ich komme aus der Praxis, ich plädiere für Prag­ma­tis­mus: Gemeinsam schaffen wir das. Fangen wir an, besser zu werden. Es gibt viele er­folg­ver­spre­chen­de Ansätze. Es gibt viel zu tun.

The Bigger Picture, von Georg Diez und Robert Peter

Was bedeutet es, wenn eine Verwaltung auf eine neue Zeit trifft?

Denn das ist es, was hier verhandelt wird: Die deutsche Verwaltung ist 200 Jahre alt, fast schon Welt­kul­tur­er­be, so wirkt es manchmal. Erhaben, behäbig, aber irgendwie schüt­zens­wert – während etwa die Verwaltung in Estland, die immer als Beispiel her­an­ge­zo­gen wird, wie es besser, digitaler, effektiver gehen kann, in einem oder zwei Jahrzehnten entstanden ist. Es trifft also im deutschen Kontext ständig auf ein System, das aus der analogen Welt und Zeit stammt, auf eine Gegenwart, die vor allem digital funk­tio­niert. 

Das ist eines der tie­fer­lie­gen­den Kon­struk­ti­ons­pro­ble­me der deutschen Verwaltung – und es braucht einen ziemlich grund­le­gen­den Design-Ansatz, um hier neue Formen und Inhalte zu schaffen. Es reicht nicht, wie es Sascha Friesike und Johanna Sprondel in ihrem Buch „Träge Trans­for­ma­ti­on. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren“ vorführen, dass mit Buzzwords oder Bullshit-Bingo Veränderung simuliert wird. Wenn sich die Architektur des Systems nicht grund­sätz­lich ändert, wird es letztlich keine be­frie­di­gen­den Resultate geben. 

Sätze, wie: „Technologie wird uns retten“, oder: „Wir brauchen eine neue Feh­ler­kul­tur“, sind deshalb oft eher hinderlich, weil sie den Blick auf das Fundament verstellen und Ver­än­de­run­gen an der Oberfläche suggerieren. Kurz gesagt: Narrative sind wichtig, aber Narrative reichen nicht. Was wir brauchen, ist unter anderem eine kon­struk­ti­ve Kri­tik­fä­hig­keit, die weit in die Geschichte der deutschen Verwaltung zu­rück­reicht. Was wir brauchen, ist Skepsis nicht als Phlegma, sondern als kon­struk­ti­ves Werkzeug, um zu zeigen, was tatsächlich gelingen kann.