Das Ende der vor langer Zeit schon an ihr Ende gekommenen Ampel-Koalition könnte kaum symbolischer sein – pünktlich zum 35-jährigen Jubiläum des Mauerfalls zeigt sich das politische System dieses Landes in einer Krise, die tiefer reicht als die aktuellen politischen Differenzen. Sie ist das Ergebnis eines schleichenden Vertrauensverlustes, der seine Wurzeln in den Versäumnissen der neunziger Jahre hat, als die Chance auf einen nachhaltigen Umbau der neuen Bundesrepublik im Zuge der Wiedervereinigung vertan wurde.

Die Frage der Staatsreform, die Re:Form beschäftigt, ist deshalb mehr als etwas, das man ehemaligen Politikern überlassen sollte – sie ist eine Aufgabe für alle, die in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen wollen, sie sollte, wie es die Re:Form-Community vormacht, aus dem Inneren der Verwaltung angetrieben werden, in Verbindung mit relevanten Stakeholdern außerhalb des bestehenden Systems. Die Staatsreform ist ein Collective-Action-Projekt.

35 Jahre nach dem Fall der Mauer stellt sich dabei die Frage, wie tief man einsteigen will in der Analyse dessen, was der Veränderung bedarf: Geht es um Abläufe, Logik, Legitimation von Staats- und Verwaltungshandeln? Geht es um eine Veränderung der Strukturen, Denkweisen, Lebenswege? Geht es um eine Theorie einer tiefen Form von Demokratie, in der sich Verwaltung und Gesellschaft verbinden? Oder geht es um das Entstehen dieser Ordnung und ihrer Instrumente, der Verwaltung?

Für ein wirkliches Gelingen dieser großen Demokratieaufgabe sind alle diesen Ebenen entscheidend – zum Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1989, vor 35 Jahren, und bei all den Reden, die von Freiheit handeln und einer Vergangenheit, die gern mythologisiert wird, lohnt sich ein Blick in die Geschichte mit dem Ziel, die Zukunft zu gestalten. Anders gesagt: Wie hätte das Ende der DDR anders genutzt werden können, um die schon damals notwendigen Veränderungen einer westdeutschen und dann gesamtdeutschen Vorstellung von Staat und Verwaltung grundlegend zu überdenken?

In der Rhetorik der Gegenwart spiegeln sich dabei oft die Verblendungen der Vergangenheit. Zurzeit schmücken Plakate die Stadt, in denen ein paar freudige Bürger zu sehen sind, begeistert vom Mauerfall, versehen mit dem Slogan: Haltet die Freiheit hoch. Aber geht es darum, heute? Was wäre mit Freiheit gemeint? Wessen Freiheit ist das heute? Die der Verfolgten, die der Migranten, die der Geflüchteten? Die der Menschen in Armut, am Stadtrand, auf Dörfern ohne Busverbindung? Sie ist vage und abstrakt, diese Forderung, und sie zielt sehr bequem an den eigentlichen Fragen vorbei.

Denn die Herausforderungen der Demokratie gegenwärtig sind äußere, wie innere – die inneren wiederum sind allzu oft verbunden mit Veränderungen, die nicht angegangen wurden, mit Versäumnissen, die in der Vergangenheit liegen. Bei einem genauen Blick auf den Reformstau in der deutschen Gesellschaft, Politik, Verwaltung zeigt sich, dass die epochale Chance zu einem gemeinsamen Neustart nach 1989 vergeben wurde – mit zeitverzögerten Folgen, die wir heute zu spüren bekommen.

Einige wichtige Bücher haben in den vergangenen Jahren diese Fehler und Versäumnisse einer Vereinigung beschrieben, die vor allem auf der Rationalität der Sieger im Kalten Krieg gebaut war, des Westens, des Kapitalismus – der bulgarische Politologe Ivan Krastev nennt das den „Nachahmungseffekt“. Sein Buch „Das Licht, das erlosch“, das er gemeinsam mit Stephen Holmes geschrieben hat, ist eine Tiefenanalyse der Selbstgefälligkeit, die Institutionen befiel, die dringend hätten reformiert werden müssen. Die Sieger versäumten den Sieg, Verlierer waren dann alle.

Auch sein Kollege Philipp Ther schildert diese Verblendung in seinem Werk „Das andere Ende der Geschichte“, das schon im Titel die Hybris aufnimmt, mit der Francis Fukuyamas Diktum vom „Ende der Geschichte“ nach 1989 von westlichen Eliten herumgereicht wurde, als sei es eine Antwort auf Fragen, die sich keiner zu stellen traute: Wie sollte die Demokratie mit dem Triumph des Marktes umgehen? Was bedeutet die Globalisierung für die Gestaltungsmacht von nationaler Politik? Wie können sich Institutionen erneuern, ohne Systemwandel, ohne Systembruch?

Wie dieser Bruch damals erlebt wurde und was er bis heute für Folgen hat, das beschreibt der Soziologe Steffen Mau in seinen Büchern „Lütten Klein“ und „Ungleich vereint“ für die ostdeutsche wie die gesamtdeutsche Gesellschaft: Eliten des Mittelmaßes übernahmen nach 1990 Ämter und Positionen in der ehemaligen DDR, sie brachten altes Denken mit und machten in vielem den Osten zum Experimentierfeld für eine neoliberale Theorie und Praxis, die das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein von Staatlichkeit schnell erodieren ließen. Der Abbau Ost war damit auch der Abbau West.

Die Historikerin Christina Morina beleuchtet diese gemeinsamen Versäumnisse in ihrem Buch „Tausend Aufbrüche“, in dem sie ost- und westdeutsche Zivilgesellschaft der 1980er und 1990er Jahre vergleicht. Sie weist darin darauf hin, „dass die politischen Ordnungen in beiden Teilstaaten mit Legitimationsproblemen konfrontiert waren“ – Veränderungen teils traumatischer Art gab es allerdings nur in einem der beiden Teilstaaten; die Folgen der asymmetrischen Vereinigung sind heute zu sehen, nicht nur in ost- und westdeutsche Wahlergebnissen, sondern auch im gesamtdeutschen Reformstau.

Besonders interessant an Morinas Buch ist dabei, dass sie „die Vorstellung einer von verfassungspatriotischen und „wehrhaft“ engagierten Bürgerinnen und Bürgern gelebten Demokratie“ als „auffallend staatsnah, ja geradezu staatszentriert“ beschreibt – sie sah schon in der BRD „das repräsentationsdemokratische Modell unter Druck“, das sich nach 1989 mit größerer Beharrlichkeit und auch Borniertheit breit gemacht hat und zivilgesellschaftliche Energie und Demokratievorstellungen an den Rand gedrängt hat.

Nach vorne gedacht, ginge es genau darum – bei den Versäumnissen von 1989 anzufangen, etwa der zivilgesellschaftlichen Energie, die letztlich ungenutzt blieb, und sie mit den Problemen von heute kurzzuschließen. Wie können aus der Zivilgesellschaft heraus die Antworten kommen auf die Fragen unserer Zeit? Wie lassen sich die Mechanismen der Zivilgesellschaft mit denen der aktuellen Politik so verbinden, dass es einen Systemwandel gibt, der einen Systembruch verhindert? Wie lassen sich Zivilgesellschaft und Verwaltung in ein konstruktives Verhältnis bringen, auf Augenhöhe von Amt und Alltag?

All die Versäumnisse sind real – und wenn man sieht, wo etwa Estland steht, das nach 1990 einen kompletten Neuanfang gewagt hat, was die Logik und Architektur der Verwaltung angeht, dann kann man nur ahnen, wo Deutschland stehen könnte, wenn die Chancen eines Reboots des Systems genutzt worden wären. Digitalisierung ist ein Mindset, und wenn das Denken im Status Quo verharrt so wie auch die Strukturen, weil das die Doktrin des Augenblicks ist, die Botschaft der Sieger, dann bleibt die Blockade bestehen, selbst wenn Mauern fallen.

Eine neue Verfassung, wie sie nach 1990 diskutiert wurde, hätte die Möglichkeit gegeben, grundlegenden Elemente von Staat und Verwaltung neu zu gestalten – den Föderalismus etwa zu entfleddern, Kommunen zu stärken, den Bundesrat grundsätzlich zu verändern, etwa Kommunen, Wissenschaft, Zivilgesellschaft mit in diese Kammer zu nehmen, die, wie es Steffen Mau vorschlägt, auch eine Art Zukunftskammer hätte sein können. Man hätte, wie es die Wirkungsfelder von Re:Form nun 35 Jahre später beschreiben, Gesetzgebung anders denken und Wirkungsorientierung als wesentliches Element der öffentlichen Haushaltsführung etablieren können.

Natürlich ist es nie zu spät. Und besonders Zivilgesellschaft, so beschreibt es Morina, ist nicht als „faktischer Zustand“ zu begreifen, „sondern als Prozess, als eine dynamische soziale Praxis“. Diese Energie einer „solidarischen Sphäre“ könnte Inspiration sein für ein anderes Verständnis von Demokratie und damit auch von Verwaltung, der Nervenzentrum der Demokratie. Das Jubiläum des Mauerfalls, Anlass zur Freude, könnte auch Anlass sein, über mehr nachzudenken als über eine Freiheit, die zunehmend nackt steht im historischen Wind, wenn sie nicht mit Solidarität verbunden wird.

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