
Was wäre, wenn wir die juristische Ausbildung reformieren würden?
Quint Haidar Aly, Co-Gründer von ACCICE (Access to Justice) und Ashoka Young Changemaker
Was haben Justiz, Verwaltung und Politik in Deutschland gemeinsam? Sie alle werden mehrheitlich von Jurist:innen verantwortet:
- Der Deutsche Bundestag besteht regelmäßig zu rund 20% aus Jurist:innen.
- Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD wurde zu 40% von Jurist:innen verhandelt.
- Führungskräfte in der Bundesverwaltung sind bis zu 60% Jurist:innen.
Wer in unserem Staat etwas gestalten will, kommt an Jurist:innen nicht vorbei. Und das im doppelten Sinne: Jurist:innen gelten als Verhinderer. Unter 100 guten Vorschlägen finden sie den einen Fehler, der alles zum Einsturz bringt.
Aus gutem Grund. Zumindest teilweise. Wo staatliches Handeln in den Konflikt mit seiner rechtlichen Grundlage gerät, sind es Jurist:innen, die den Staat sprichwörtlich „zurückpfeifen“. Wenn Jurist:innen Recht auslegen, stellen sie damit die Einhaltung von Regeln sicher, die sich der Staat selbst gegeben hat. Jurist:innen verhindern also auch deshalb, weil wir sie genau dafür brauchen.
So weit, so gut. Wir bräuchten Jurist:innen aber noch für etwas anderes: Um Regeln zu entwerfen, mit denen es gar nicht erst zum Konflikt kommt. Um Regeln zu schaffen sowie iterativ zu verbessern, die mutig und adaptiv zwischen widerstreitenden Interessen vermitteln: Dem Bedarf nach Rechtssicherheit auf der einen Seite und der Notwendigkeit von Handlungs- und Gestaltungsfreiheit auf der anderen Seite.
Doch für diesen Bedarf unserer Gesellschaft und unseres Staates werden Jurist:innen schlicht nicht ausgebildet. Im Gegenteil. Ob im Zivil-, Straf- oder öffentlichen Recht, die deutsche juristische Ausbildung besteht fast ausschließlich aus der Erstellung von ex-post Gutachten. Gutachtenklausur folgt auf Gutachtenklausur folgt auf Hausarbeit – die letztlich auch ein lange Gutachtenklausur ist.
Jurist:innen lernen so über die Jahre hinweg, erst dort anzusetzen, wo es bereits zum Konflikt gekommen ist: Etwas ist schiefgegangen und jetzt muss entschieden werden, wer welche Ansprüche hat. Wer im Recht ist. In den letzten zwei Jahren der Ausbildung kommen dann noch die eigenständige Erschließung des Sachverhalts und die Befassung mit der Rechtsfolgenseite dazu. That‘s it.
Historisch gesehen ist diese Schwerpunktsetzung mit der normativen Fixierung der juristischen Ausbildung auf die richterliche Tätigkeit zu erklären. Eingedenk dieser Prädisposition ist es zu einem gewissen Grad sogar schlüssig, fast ausschließlich für die späte, für die Konfliktphase einer rechtlichen Dynamik auszubilden: Vor Gericht geht man in der Regel erst, wenn es auch etwas zu entscheiden gibt. Bereits vor der Entstehung eines Konfliktes anzusetzen, ist der juristischen Ausbildung aus diesem Grund aber weitestgehend fremd geblieben.
Dabei liegt genau hier ein Großteil der juristischen Tätigkeit: Den Konflikt nicht entscheiden, sondern vermeiden. Sowohl für die anwaltliche als auch für die verwaltungsjuristische Praxis hat diese rahmende und steuernde Dimension des Rechts eine grundlegende Bedeutung.
Setzt man diesen Perspektivwechsel in die Ausbildung fort, gäbe es hier plötzlich ganz neue Bereiche zu erkunden: Von Rechtssetzungslehre, über Legal Design bis hin zu Rechtswirkungsforschung. Entlang solcher Disziplinen würde man zum Beispiel lernen, wie man das Recht so erklärt, dass dessen Adressat:innen auch tatsächlich verstehen, woran sie sich zu halten haben. Oder wie man Verträge und Prozesse entwirft, die schlank und trotzdem rechtssicher sind. Wie man rechtliche Risiken quantifiziert und ins Verhältnis setzt, wo ein klares „ja“ oder „nein“ als Antwort nicht infrage kommt.
Auch wie man zu schlüssigen Gesetzen, Verordnungen oder Satzungen – also Rechtstexten – kommt, wenn eine Vielzahl von Personen an deren Entstehung beteiligt ist. Und zwar ohne dem Reflex zu verfallen, durch Recht zu „mikro-managen“ und jeden Spielraum „wegzuregulieren“.
Insgesamt könnten anders ausgebildete Jurist:innen viel häufiger Lösungen anbieten, anstatt nur auf die Probleme zu zeigen. Sie würden nicht nur Fallstricke sehen, sondern auch den Möglichkeitsraum, der sich durch Recht erschließen lässt. Mit einer Reform der juristischen Ausbildung müsste deshalb auch ein Wandel auf Ebene des „Mindsets“ kommen beziehungsweise, wissenschaftlich gesprochen, eine andere Fachsozialisierung: Jurist:innen würden Recht nicht nur erkennen und anwenden, sondern auch proaktiv und (selbst-)bewusst gestalten. Sie würden nicht mehr primär das Vergangene bewältigen und verarbeiten, sondern in gleichem Maße auch rechtliche Zukünfte erdenken und gestalten. Sie wären im doppelten Sinne „zukunftskompetent“.
Zu guter Letzt würde die Reform der juristischen Ausbildung ein Dilemma lösen, welches sich der gegenwärtige Diskurs zur Staatsreform noch weiter erschließen muss, dass vor dem Hintergrund des drohenden Rechtsstaatsverlusts in den USA aber immer deutlicher zutage tritt: Als Rechtsstaat können wir vielleicht an einigen Stellen auf Jurist:innen verzichten. Über eine Öffnung des Laufbahnrechts zum Beispiel, wie es der aktuelle Koalitionsvertrag vorsieht.
Worauf wir als Rechtsstaat aber nicht verzichten können, ist das Recht an sich. Das brauchen wir mehr denn je. Dieses Recht darf uns als Gesellschaft aber nicht lähmen und immer wieder auf die Füße fallen, sondern muss beflügeln und den Rücken freihalten. Spätestens hierfür brauchen wir aber auch Maßnahmen und Köpfe, welche die deutsche Rechtskultur nicht nur punktuell, sondern in ihrer Breite voranbringen können und wollen. Solche Köpfe gibt es bereits in der juristischen Community. Und wenn wir die Ausbildung reformieren, werden es immer mehr.
Erfahre mehr über ACCICE und Quint Haidar Aly.
Diesen Beitrag haben wir am 26. Juni 2025 in unserem Re:Form-Newsletter versendet. Melde Dich jetzt an und erhalte die neuesten Ausgaben direkt in Dein Postfach.