Was wäre, wenn Künstliche Intelligenz Bürokratie meistern würde?
Andreas Stoch, Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD Baden-Württemberg
Wenn uns Bürokratie überfordert, brauchen wir nicht nur Abbau, sondern auch neue Hilfsmittel. Überbordende Bürokratie lähmt unser Land, nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch den Staat selbst. Doch der Abbau ist auch deswegen schwer, weil die meisten Auflagen und Vorschriften an sich gute Gründe haben. Bürokratie können wir nicht nur entfernen, wir müssen sie auch meistern – mit neuen Hilfsmitteln. Zeit, über viel mehr künstliche Intelligenz (KI) nachzudenken.
Das Problem ist allgemein bekannt und mehr als erschöpfend beschrieben: Überbordende Bürokratie und Berge an Genehmigungen behindern Bürger, Bauherren oder Unternehmer, schrecken Investoren ab, bremsen dringend nötigen Wandel, lähmen schließlich sogar die „Bürokraten“ in der öffentlichen Verwaltung selbst. Die Antwort auf das Problem ist klar: Bürokratieabbau.
Doch jenseits dieser Parole erleben wir von den Kommunen bis auf die europäische und internationale Ebene gewaltige Probleme in der Umsetzung. Denn all die Regeln und Vorschriften, die uns in ihrer Summe buchstäblich schikanieren, wurden nicht als Schikanen ersonnen, sondern aus guten Gründen eingeführt.
Die Genehmigung einer neuen Produktionsstätte dauert auch deswegen so nervtötend lange, weil wir keine Fabriken wollen, die das Grundwasser verseuchen oder in denen die arbeitenden Menschen krank werden. Wir wollen nicht, dass Landschaftsschutzgebiete verschandelt werden oder der seltene Baumfalke seine Nistplätze verliert.
All das wollen wir nicht, obwohl wir auch ganz dringend den Bürokratieabbau wollen. Und während wir seit Jahrzehnten über die lähmende Last an Bürokratie schimpfen, uns immer wieder ihren Abbau auf die Fahnen schreiben, kommt immer neue Bürokratie aus immer neuen, guten Gründen dazu. Wir wollen nicht, dass Menschen ausgebeutet werden, auch nicht im Ausland? Schon haben wir ein Lieferkettengesetz.
So übersteigt die Bürokratie nicht nur die Möglichkeiten des Einzelnen, sondern sogar die des Staates: In vielen Behörden sind Mitarbeitende nicht nur von der Masse der Arbeit überfordert, sondern auch von ihrer Komplexität. Genehmigungen werden so nicht nur absurd verzögert, sondern immer wieder vollends verunmöglicht. Im Dickicht von Vorschriften und Zuständigkeiten setzen sich die Bedenkenträger durch. Wer nichts macht, macht nichts falsch.
In kleineren Orten können sich ältere Menschen an eine gute alte Zeit erinnern, in der ein Veteran von Bürgermeister sich noch selbst um alles kümmerte und Bürokratie oft clever meisterte. „Lärmschutzgutachten brauchen wir nicht bei Eurer Schneiderei“, sagte der dann. „Ich kümmere mich drum“. Bürokratie heute noch so zu meistern, übersteigt die menschlichen Möglichkeiten. Aber wir können heute nicht nur menschliche Möglichkeiten nutzen.
KI kann dazu beitragen, Bürokratie zu meistern, wo sie sich nicht abbauen lässt. Denn sie kann dafür Sorge tragen, all die gut gemeinten Vorschriften und Auflagen zu beachten, ohne uns zu überwältigen. Weder zeitlich noch mit Bergen an Formularen, weder die Antragsstellenden noch die, die die Anträge genehmigen sollen.
Eine KI ließe sich zentral und einheitlich kalibrieren, mit dem kompletten Fundus an Vorschriften und Auflagen, sämtlicher auch hochaktueller Rechtsprechung. Genau das könnte der KI auch jene Souveränität verleihen, die in der Bürokratie so oft vermisst wird, jenen „gesunden Menschenverstand“, der nicht auf offenkundig unsinnigen Formalien besteht. Gleichzeitig wäre eine KI über manchen Vorwurf menschlicher Schwäche erhaben, sei es Günstlingswirtschaft oder ein schlichtes Versehen. Schließlich meistert eine KI auch Doppelungen in der Bürokratie: Alles nochmal einreichen, weil es jetzt um eine Förderung geht? „Copy and Paste“, sozusagen.
Die Entwicklung einer künstlichen „Clever Bureaucracy“ sollte weder als utopische Kür noch als Luxus für geplagte Bürgerinnen und Bürger abgetan werden. Der Fachkräftemangel ist auch in der öffentlichen Verwaltung jetzt schon spürbar, aber erst in der Zukunft wird er mit voller Wucht einschlagen. Die Überforderung vieler Ämter und Behörden wird damit überwältigend werden. Dem allein mit dem Abbau von Bürokratie zu begegnen, ist absehbar unzureichend, selbst wenn dieser Abbau utopisch radikal ausfiele.
Ein staatlicher Think-Tank für künstliche „Clever Bureaucracy“ sollte so schnell wie möglich eingerichtet werden und mit Pilotprojekten an den beiden äußersten Enden ansetzen: auf der Ebene einer kommunalen Verwaltung und auf der Ebene eines Bundesministeriums. Immer mit dem Anspruch, den Weg zu Ende zu gehen.
Also nicht nur eine Art „Bürokratie-Taschenrechner“ für Verwaltungsbeamte zu erstellen, sondern ein System, das Angelegenheiten vollständig abwickelt. Dafür müsste allein schon der rechtliche Status geklärt werden: Was braucht eine KI, um eine Entscheidung fällen zu dürfen? Wie kann eine KI mit allen relevanten Daten gefüttert werden, also für ein Standardverfahren zur Genehmigung eines Carports über das Baukataster zu verfügen?
Eine künstliche „Clever Bureaucracy“ entbindet uns nicht von der dringend nötigen Aufgabe, den Berg an Bürokratie zu verkleinern. Ein Berg wird es bleiben, wenn auch niedriger und weniger steil. „Clever Bureaucracy“ per KI wird diesen Berg nicht beseitigen. Sie kann uns aber schneller und komfortabler über diesen Berg helfen und damit die Quadratur des Kreises schaffen: die Standards zu erhalten, die wir fordern, ohne uns damit zu überfordern.
Diesen Text haben wir am 18. September 2025 in unserem Re:Form-Newsletter versendet. Melde Dich jetzt an und erhalte die neuesten Ausgaben direkt in Dein Postfach.