Was wäre, wenn Partizipation nicht nur mitreden sondern mitgestalten bedeutet?
Audrey Tang, ehemalige Digitalministerin von Taiwan und Freie-Software-Programmiererin
Taiwan ist ein Land, in dem Digitalisierung so normal und alltäglich ist wie ein Spaziergang am Morgen. Das hat historische Gründe. Taiwan ist ein junges Land, eine junge Demokratie, und das Ende der Diktatur fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn des Internet-Booms. Der erste frei gewählte Präsident, Lee Teng-hui, trat 1996 sein Amt an, nur ein paar Monate, nachdem Bill Gates mit seinem Memo über die „Internet Tidal Wave“ das Internet-Zeitalter für die Mainstream-Gesellschaft eingeläutet hatte.
Das Internet und die Demokratie sind so etwas wie siamesische Zwillinge in Taiwan. Mehr als jede andere Institution steht dabei g0v (gov-zero) für diese enge und besondere Verbindung, die wohl einzigartig in der Welt ist. g0v wurde 2012 von Hackern gegründet, angetrieben von der Unzufriedenheit über die digitalen Services der Regierung und die Transparenz von Daten.
Die Hacker durchforsteten die Webseiten der Regierung und bauten alternative Formate für die Visualisierung und die Verwendung von Daten. Weil diese Alternativen sehr viel beliebter waren als die Webseiten der Regierung, übernahm die Regierung einige davon.
Von Anfang an bestand eine enge Verbindung der Tech-Community der Hacker und der Zivilgesellschaft, die sich zu Hackathons trafen, um gemeinsam soziale und gesellschaftliche Fragen – ohne wirtschaftliche Absichten – anzugehen. Der Slogan dieser Aufbruchszeit der 2010er Jahre lautete: „Frag nicht, warum niemand daran arbeitet. Du bist dieser Niemand.“ Bekannt wurde die Bewegung deshalb als die Niemand-Bewegung.
Sie war sehr praxis- und anwendungsorientiert, mit klarer demokratischer Ambition und Open Source. Hier trafen sich Akteur:innen aus dem Aktivismus, der Bürgermedien und der Bewegung für freie Software. Es war ein transformatorisches Generationenprojekt, das die Demokratie Taiwans entscheidend prägte.
Besonders relevant ist dabei vTaiwan, eine Plattform, die Deliberation ermöglicht, also die breite Beteiligung der Bevölkerung an Debatten und Entscheidungen der Politik. Dabei sind verschiedene Ebenen verbunden, die Vorschlags-, die Meinungs-, die Reflexions- und die Gesetzgebungsebene.
All das setzt auf die Open-Source-Software Polis auf, die sich für die Nutzer:innen ähnlich anfühlt wie X oder früher Twitter – mit dem grundlegenden Unterschied, dass Meinungen nach einem Cluster-Schema geordnet und visuell wie diskursiv zugänglich gemacht werden. Polis hat das Ziel, verbindende Aspekte und Argumente zu finden – das Gegenteil von Polarisierung also.
Dieser Ansatz ermöglicht nicht nur eine breite Beteiligung an Gesetzgebungs- und anderen Politikfragen, auch die Konsensbildung wird so erleichtert und das Verständnis für die Trennlinien, wie die Argumente der Gegenseite.
Der Diskurs, den sonst traditionelle Medien aggregieren, wird so demokratisch zugänglich und nutzbar – es entsteht eine andere, direkte Art von Öffentlichkeit, ohne Verzerrungen und Manipulationen, ohne Spin.
Wichtig ist aber auch: vTaiwan war als experimentelle Plattform für eine spitze Gruppe von Menschen angelegt, insgesamt beteiligten sich 200.000 Menschen, knapp ein Prozent der Bevölkerung, an diesem deliberativen Prozess, bei dem es anfangs vor allem um Fragen der Regulierung von Technologie ging, etwa in der Finanzwirtschaft oder bei Künstlicher Intelligenz.
Diese Form der Partizipation, die digital möglich ist, ist ein Beispiel dafür, wie sich die Demokratie weiterentwickeln kann. vTaiwan ist eine dezentrale zivilgesellschaftliche Gemeinschaft, ein lebender Organismus, der sich natürlich weiterentwickelt und anpasst, je nachdem, was die Bürger:innen wollen.
Es gibt aber auch Schwierigkeiten, weil viel freiwilliger Aufwand erforderlich ist und ein klares Mandat für Regierungshandeln fehlt. Dadurch wird der Fokus oft etwas eng. Als Antwort darauf hat sich vTaiwan stärker zu einem Mittler zwischen Öffentlichkeit und Regierung entwickelt – mit der Ambition, die demokratische Praxis zu verändern und zu erneuern.
vTaiwan sucht die Zusammenarbeit mit Organisationen und Unternehmen im KI-Bereich und testet verschiedene Applikationen und LLMs (Large Language Models), um Politikgestaltung und Partizipation weiterzuentwickeln. Ein Resultat ist die Plattform Join, die von der Zivilgesellschaft sehr viel genutzt wird, um eigene Ideen und Vorstellungen in die Regierungspraxis einzubringen.
In Taiwan warten wir also nicht auf perfekte Lösungen von oben. Wir setzen auf digitale Partizipation, getragen von unserer engagierten Civic-Tech-Community, die nicht nur kritisiert, sondern mitgestaltet.
Erfahre mehr:
- Taiwans Institution g0v (gov-zero)
- Open-Source-Plattform vTaiwan
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